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Matte aller Möglichkeiten

Am 1. August rückt die Rütliwiese wieder in den nationalen Fokus. Ihre Bedeutung für die Schweiz wird unterschätzt

Wolkendecke statt Morgenrot, bissiger Wind statt Strahlenmeer. Das Rütli hat an diesem Julimorgen kurz nach sieben Uhr nicht viel von jener symbolischen Ausstrahlungskraft, die ihm die Urner Touristiker auf ihrer Website andichten. Neben der frisch gemähten Rütliwiese grasen ein paar schottische Hochlandrinder. Am Himmel kreist ein lärmiger Helikopter. Und dann fängt es auch noch an zu nieseln. Fast so wie beim berühmten Rütlirapport am 25. Juli 1940, als Henri Guisan hier seine Offiziere auf die Réduit-Strategie eingeschworen hat. Im Nachhinein erzählte man sich, der General habe seinen flammenden Appell bei strahlendem Sonnenschein vorgetragen, obwohl es auf dem Rütli auch an jenem Tag nachweislich regnete.

Die Anekdote zeigt, dass das Rütli – was Legenden anbelangt – der fruchtbarste Boden ist im ganzen Land. Nicht nur was Guisans Rede angeht, sondern auch was die historische Bedeutung der Wiese betrifft. Das Label «Geburtsstätte der Schweiz» klebt hartnäckig an ihr. Doch so eingängig der Slogan klingt, so falsch ist er. Das Rütli hat wenig bis nichts mit der Geburt der Schweiz zu tun.

Bürgerkrieg und Rütli-Geschenk

Warum also der Hype? Wer nach der Bedeutung des Rütli fragt, dem sei zuerst einmal versichert, dass der damalige SVP-Präsident und heutige Bundesrat Ueli Maurer falsch lag, als er 2007 behauptete, das Rütli sei «nur eine Wiese mit Kuhdreck». Das Rütli ist weit mehr als das, aber eben auch weit weniger als eine «Geburtsstätte». Es ist, nüchtern betrachtet, eine 62‘000 Quadratmeter grosse Wiese am Urnersee, die dem Schweizervolk gehört und mit einem strengen Campingverbot belegt ist. Gestört wird die arkadische Idylle einzig durch die 70‘000 Besucher, die jährlich über die Matte trampen.

Schottische Hochlandrinder: die einzigen, die hier dauerhaft geduldet sind. Alle anderen müssen das Rütli über Nacht verlassen.

Dass die Wiese noch immer gänzlich frei von monumentalen Denkmälern ist, haben wir der «Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft» (SGG) zu verdanken. Als 1859 das Gerücht umging, auf dem Rütli sei eine Hotelanlage geplant, kaufte die SGG das Land auf und verschenkte es im Jahr darauf an die Eidgenossenschaft. Ein heilender Akt kurz nach dem Ende des Bürgerkriegs, in dem sich die konservativen Innerschweizer Sonderbundskantone und die mehrheitlich reformierte Eidgenossenschaft zwölf Jahre zuvor die Köpfe blutig geschlagen hatten. Das Geschenk, das die SGG der Schweiz mit dem Rütli machte, gab dem jungen Bundesstaat kurz nach seiner Geburt zum ersten Mal einen manifesten Nabel.

Viele, die die vermeintliche eidgenössische Geburtsstätte zum ersten Mal besuchen, erschrecken ob der schieren Schlichtheit des Ortes. So viel Geschichte an einem so einfachen Flecken Erde? Der Zweifel ist berechtigt, die Frage trifft ins Schwarze. Denn viel Geschichte ist da tatsächlich nicht. Die Behauptung, dass hier am 1. August 1291 Vertreter aus Uri, Schwyz und Unterwalden zur Verschwörung gegen die Landvögte zusammenkamen und das im sogenannten Bundesbrief festgehaltene Gelöbnis ablegten, ist jedenfalls mit Sicherheit falsch.

Nichts da mit 1291

Die Erzählung, dass sich die drei Ur-Verschwörer ausgerechnet auf dem Rütli getroffen hätten, taucht erstmals im «Weissen Buch von Sarnen» auf. Der Obwaldner Landschreiber Hans Schriber hielt darin 1474 fest, es habe ein Treffen auf dem «Rudli» gegeben. Wirklich spezifisch ist das allerdings nicht. Schriber hätte praktisch jede rodbare Kleinfläche in der heutigen Zentralschweiz gemeint haben können.

«Drum, Rütli, sei freundlich gegrüsst;
dein Name wird nimmer vergehn,
so lange der Rhein uns noch fliesset,
so lange die Alpen bestehn.»
Schlussstrophe des Rütlilied von 1820

Knapp hundert Jahre später las der Historiker Aegidius Tschudi den Eintrag und behauptete, der Schwur auf dem «Rüdlin» habe 1307 stattgefunden. Danach war es lange relativ ruhig um die Wiese. Erst im 18. Jahrhundert geriet das Rütli wieder in den Fokus, als man dank dem wiederentdeckten Bundesbrief glaubte, das wahre Datum des Rütlischwurs – nämlich 1291 – endlich zu kennen. Es ist also keinesfalls so, dass der vermeintliche Treffpunkt der Verschwörer auf dem Rütli und der vermeintliche Zeitpunkt des Geschehens im Jahr 1291 seit je in einem einzigen Erzählstrang zusammengefasst gewesen wären. Die Geschichte scheint im Gegenteil ziemlich wirr zusammengeschustert. Die breite Bevölkerung hatte erst nach 1800 wirklich Kenntnis von der Erzählung, schreibt der Zürcher Historiker Roger Sablonier.

Das «Rütlilied» von 1820, in dem die beiden Studenten Franz Joseph Greith und Johann Georg Krauer das «stille Gelände am See» mit viel dichterischem Pathos abfeiern, sieht Sablonier als Zeugen der aufkeimenden Erinnerungskultur, die zu jener Zeit rund um das Rütli entstand.

Propaganda-Verbot auf der Wiese

Teil dieser Erinnerungskultur war auch Schillers Drama «Wilhelm Tell», das 1804 in Weimar uraufgeführt wurde. Mit Wilhelm Tell stellte Schiller den drei Ur-Verschwörern einen weiteren Helden an die Seite, der an den Gestaden des Urnersees für Recht und Ordnung einstand und der Gegend rund um das Rütli einen freiheitlich-kämpferischen Geist einhauchte. Bis Tell ins kollektive Bewusstsein der Schweizer Bevölkerung trat, dauerte es allerdings Jahrzehnte, schreibt der Basler Historiker Georg Kreis. Zentral für die populäre Bedeutung des Rütli sei vielmehr die Schenkung der Wiese an die Eidgenossenschaft im Jahr 1860 gewesen.

Stilles Gelände am See und herausfordernde Lücke im schweizerischen Selbstverständnis.

Das Rütli wurde mehr und mehr zu einer nationalen Bühne, die den dort bekundeten Ideen Beachtung verlieh. Statt wie heute auf Twitter oder in der «Arena» legte man seine Standpunkte damals auf dem Rütli dar und gab damit seiner Message einen erhabenen Anstrich. Eine geradezu «kultische Verehrung» sei dem Rütli anlässlich der 650-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft im August 1941 zuteilgeworden, schreibt Kreis. Trotz Guisans moralisierendem Rütlirapport im Jahr davor dominierten nationale Existenzängste das Firmament über dem kriegsgeplagten Europa. Und die Schweiz suchte mentale Zuflucht auf dem Rütli, dem Hort der Unabhängigkeit.

Nach dem Weltkrieg wurden die auf der «heiligen Wiese» vorgetragenen Ideen immer konkreter und wichen häufig von der reinen Unabhängigkeits- und Neutralitätsbekundung ab. 1945 polterte Nationalrat Josef Schuler mit Verweis auf die ausschliesslich männliche Präsenz «damals auf dem Rütli» gegen die Einführung des Frauenstimmrechts. 1968 hissten jurassische Separatisten die Fahne des späteren Kantons Jura, 2005 statuierten Rechtsradikale ein pfeifendes Exempel an Bundespräsident Samuel Schmid, und 2010 zeigte ein Teilnehmer einer Veranstaltung der Partei National Orientierter Schweizer auf dem Rütli den Hitlergruss. 2014 schliesslich verbot die SGG als Verwalterin politische Propaganda auf dem Rütli. Die Wiese solle die Schweiz schliesslich einen, nicht spalten.

Kommet und überdenket

Was bleibt vom Rütli, wenn nicht nur die Anekdote der hier versammelten Verschwörer von 1291 nicht stimmt, sondern wenn man nicht einmal mehr konkrete politische Forderungen auf der Wiese vortragen darf?

Folgt man der Argumentation von Historiker Sablonier, lautet die Antwort: ziemlich viel. Das Rütli als Erinnerungsort funktioniere auch ohne konkrete historische Bezüge, schreibt Sablonier. Die Wiese sei in der Schweizer Ideen- geschichte ein Aufhänger für alles Mögliche. Vaterlandliebende, Freiheitsbedürftige, Solidarität Einfordernde, sie alle berufen sich auf den Rütligeist. Und der weht nach wie vor. Das Rütli ist immer noch ein Ort politischer Visionen – auch nach dem historischen Tod der Ursprungs-These.

Unten am See legt das erste Schiff des Tages an. Drei Touristen kommen durch den Regen hochgehastet. Die nasse Wiese schimmert grün, das Schiff legt ab und hupt einen Gruss zur Matte hoch. «Drum, Rütli, sei freundlich gegrüsst; dein Name wird nimmer vergehn, so lange der Rhein uns noch fliesset, so lange die Alpen bestehn», heisst es in der Schlussstrophe des Rütlilieds.

Kitschig? Klar. Doch wenn der Wunsch nach Kontinuität, der aus den Zeilen spricht, auch den Wunsch nach kontinuierlichem Wandel der Ideen und fortwährendem Überdenken der alten Ideale einschliesst, dann hat die Strophe nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Dann erlebt die an sich bedeutungsleere Weide am Urnersee vielleicht bald eine neue Blüte als Ausflugsziel. Schön ist sie zweifelsohne. Und auch lernen kann man von ihr eine ganze Menge.

Zuerst erschienen in der „Schweiz am Wochenende“ am 29. Juli 2017

Er war überall

Roman Brühwiler hat alle Länder der Welt besucht. Doch das reicht noch lange nicht, um die „Most Traveled Person on Earth“ zu sein

Kennen Sie dieses Spiel, bei dem man mit geschlossenen Augen irgendwo auf die Weltkarte tippt und dann dahin reist, egal, wie ausgeflippt oder weit entfernt das Ziel liegt? Für viele Menschen ein spannender Weg, neue Orte zu entdecken. Nicht so für Roman Brühwiler. Sein Problem: Er war schon überall. Der 58-jährige St.Galler steht in seinem Landhaus in Zuzwil und schaut auf die riesige Weltkarte, die neben den gerahmten Bildern seiner vier Kinder an der Wand hängt. Die Karte ist übersät mit orangen Kleberli, auf denen er jeweils das Datum seines Besuchs hinkritzelt. Bagdad, Bangladesch, Burundi? War er. Mogadischu, Malawi, Mauretanien? Check! Neuguinea, Nauru, Nordkorea? Hat er abgehakt. Roman Brühwiler ist ein Extrem-Traveller. Nur vier Menschen haben noch mehr von der Welt gesehen als er, doch dazu später.

Brühwiler setzt sich an den grossen Holztisch in seinem Wintergarten. Hinter ihm hängen Gewitterwolken pittoresk über den Ostschweizer Alpen. Unten im Garten plätschert das Wasser in einen hübschen Schwimmteich. Der Rasen ist frisch geschnitten, die Sträucher blühen, helvetisches Idyll. Doch Brühwiler reicht das nicht, um glücklich zu sein. Nach vier Jahren als Lehrer ging er zum ersten Mal auf Weltreise, alleine. «Meine Frau war mit unserem zweiten Kind schwanger», sagt er. Sie habe das Reisen weit weniger fasziniert als ihn. «Aber sie liess mich gehen, weil sie wusste, wie wichtig mir das war – und weil sie ohne mich mehr Zeit für all ihre Freundinnen hatte.» Diesen freiheitlichen Deal hatten sich die beiden gewahrt, bis seine Frau im vergangenen Jahr verstorben ist.

20 Länder an einem Tag

Auf der Weltreise hats ihn dann so richtig gepackt. Er hat sich vorgenommen, binnen eines Jahres alle Länder der Welt zu besuchen. «Damals war das für mich eine rein organisatorische Challenge. Ich wollte wissen, ob ich das hinkriege.» Er stellte ein kleines OK-Team aus Freunden und Verwandten zusammen und legte los. «Ich hatte damals sieben Schweizer Pässe», erzählt Brühwiler. Das war nötig, um all die notwendigen Visa rechtzeitig zu erhalten.

Roman Brühwiler belegt Rang fünf auf der Liste der "Most Traveled People" der Welt.

Roman Brühwiler belegt Rang fünf auf der Liste der „Most Traveled People“ der Welt.

Am 3. April 2006 startete er in San Marino. 364 Tage später landete er im kleinen Inselstaat Nauru. Er hatte es geschafft. In einem Jahr setzte Brühwiler mindestens einen Fuss in alle 194Länder der Welt. Manchmal blieb er nur ein paar Minuten (5in Weissrussland, 10in Saudi-Arabien, 11 in Guinea Bissau, 18 in Lesotho, 28 in Irland), manchmal ein paar Tage. «Es ging mir nicht um den Genuss», sagt Brühwiler. «Reisen war für mich damals ein Leistungssport.» Entlang des Weges stellte er mehrere Rekorde auf, die das Guinness-Buch nur deshalb nicht akzeptierte, weil er für dessen Verhältnisse zu oft mit dem Flugzeug reiste. Er besuchte fünf afrikanische Länder in 24 Stunden, flog 28600 Kilometer in 36 Stunden und – da würde auch die ambitionierteste japanische Reisegruppe vor Neid erblassen – betrat in nur einem Tag 20 europäische Länder. Ist das nicht Verrat an der Reiseseele? Doch, das sei es, gibt Brühwiler zu. «Aber eben: Es ging mir nicht um den Genuss.»

Bei seinem neuen Projekt ist das ganz anders. Brühwiler will bis in 15Jahren alle rund 4000Provinzen und alle 1100Unesco- Weltkulturerbestätten besuchen – nicht nur für wenige Minuten, sondern so richtig. Seit zehn Jahren ist er dran. Rund einen Drittel hat er schon geschafft. Er liegt gut im Plan. Obs schlussendlich wirklich aufgeht, wird sich aber erst noch weisen. «Bei Syrien, zum Beispiel, muss ich jetzt halt einfach abwarten. Da kann man momentan schlicht nicht hin», sagt Brühwiler.

Verprügelt am Nil, ausgeraubt in Tahiti

Sein Wahnsinns-Projekt hat ihm nicht nur goldene Vielflieger-Karten mit Lounge-Zugang an vielen Flughäfen gebracht, sondern ihn auch in einen Top-Rang der erlauchten Liste der «Most Traveled People» katapultiert. Die Liste gilt in der Extrem-Traveler-Szene als Massstab aller Dinge. Sie definiert aktuell 875 Ziele auf der Welt, an denen man gewesen sein muss, um sich meistgereister Mensch der Welt schimpfen zu können. Brühwiler belegt derzeit Rang fünf. Er hat 817 der 875 Ziele bereist. In der Szene kennt man sich. An besonders schwierig zu erreichende Orte reist man auch mal gemeinsam, um sich die Kosten zu teilen. Gerade im vergangenen April zum Beispiel besuchte er mit einigen der anderen Top-Platzierten die somalische Hauptstadt Mogadischu – begleitet von schwer bewaffneten Sicherheitsleuten. «Die Stimmung unter uns ist jeweils völlig entspannt», sagt Brühwiler. «Wir haben noch nie auf hoher See einen über Bord geworfen.»

Brühwiler macht kein Geheimnis draus, was diese Trips in Wirklichkeit sind: «Gemeinsame Ausflüge von Süchtigen.» Süchtige mit ziemlich dickem Portemonnaie. Denn diese Exkursionen sind richtig teuer. Die meisten der Top-Platzierten seien Geschäftsleute, die ihre Firmen verkauft hätten und nichts mehr anderes machten, als rumzureisen. Auch er selbst hat das so gemacht. Nach vier Jahren als Lehrer führte Brühwiler zuerst eine Weile ein eigenes Reisebüro. Dann gründete er eine Firma, die mit Lehrmitteln handelt. Die Firma hat er verkauft. Inzwischen ist er sechs Monate im Jahr auf Reisen. Die anderen sechs Monate verbringt er mehrheitlich damit, die extremen Trips zu planen. Dreimal wöchentlich trainiert er im Fitnessstudio, um den körperlichen Herausforderungen gewachsen zu sein. Im Winter bohrt er jeweils zwei Löcher in seinen gefrorenen Schwimmteich und taucht unter der Eisschicht hindurch. Abhärtungstraining für anstehende Exkursionen. Und was kostet das alles? «Wie viel Geld ich für die Reisen ausgebe, weiss ich nicht», sagt Brühwiler und lächelt.

Auf seinen Reisen hat der Weltgänger ziemlich brenzlige Situationen erlebt. Er wurde am Nilufer brutal zusammengeschlagen, in Tahiti ausgeraubt, verlor im Sudan all seine Reisedokumente und kam in Amerika Face-to-Face mit einem wilden Grizzlybär. Er hat extrem abgelegene Flecken besucht wie Scott Island in der Antarktis. Er hat «schreckliche Orte» gesehen wie Kuwait oder Bangladesch und ist spektakulär gescheitert: an der Bouvet-Insel weit draussen im Südatlantik. Er hat die Insel auf einem Boot zweimal umrundet, doch die Wellen waren zu gefährlich. «Ich wäre noch so gerne an Land geschwommen. Doch der Expeditionsleiter liess mich nicht.»

Und der schönste aller Orte ist…

Heimatlos sei er aber nie geworden. Er komme immer gerne in die Schweiz zurück. Doch nach spätestens drei Wochen «fangts a züche». Dann müsse er wieder raus in die weite Welt. Als Nächstes steht eine Schiffsreise entlang der Nordküste Russlands auf dem Programm. Auch auf dieser Reise wird er überall Schweizerdeutsch sprechen, wie immer in fremden Ländern, deren Sprache er nicht versteht. «Zentral ist die Mimik und die Gestik, und die wirkt am natürlichsten, wenn man in seiner Muttersprache spricht.» Die Russlandreise führt vorbei an Franz-Josef-Land. Da war er noch nicht. «Bisher gings nicht wegen des ewigen Eises. Doch dank dem Klimawandel wirds jetzt möglich», sagt Brühwiler.

Haben wir richtig gehört? Der Klimawandel als Reisehilfe? «Genau. Den Klimawandel hats immer gegeben», sagt Brühwiler. «Wer sagt denn, dass sich die Welt nicht verändern dürfe? Wieso muss alles so bleiben, wies jetzt ist?» Er werde oft auf seinen ökologischen Fussabdruck angesprochen. «Aber diese Diskussion ist doch Blödsinn. Die Welt ist zum Geniessen da.» Punkt.

Der Reporter beisst ins Erdbeertörtchen. Kurze Gesprächspause. Dann doch noch die alles entscheidende Frage: «Sie waren überall, Herr Brühwiler. Wo ists denn eigentlich am schönsten?» Die Antwort kommt blitzschnell: «Auf der Lord Howe Island östlich von Australien», sagt Brühwiler. Wilde Bergwelt, einsame Strände, unglaubliche Vegetation: Das sei das Paradies. Irgendwann möchte er da noch einmal hin, um sich auszuruhen von all den Reisen. Doch vorerst warten noch etwa 2500 Provinzen auf ihn. Wenn er sich an seinen Reiseplan hält, wird er in absehbarer Zeit den ersten Rang auf der Liste der Meistgereisten einnehmen. «Das wäre aber eigentlich ein Seich. Dann wäre die Herausforderung vorbei», meint Brühwiler. Ein wahrer Genussmensch würde das wohl kaum so sagen.

Zuerst erschienen am 7. Juli 2017 in der „Aargauer Zeitung“

Schicksal spielen in Biafra

Der Schaffhauser Nuot Ganzoni operierte als junger Chirurg Kämpfer im Biafra-Krieg. Bis heute plagen ihn Bedenken, ob sein Einsatz richtig war.

An seinem ersten Tag ist keiner gestorben. Es war ein Donnerstag im Februar 1969, heiss wie immer in Biafra. Nuot Ganzoni stand im kleinen Operationssaal des alten Missionsspitals im Dorf Aboh und flickte gemeinsam mit vier Berufskollegen jene zusammen, die der Krieg tagein, tagaus aufs Neue zerfetzte. Rückenschuss, Thoraxschuss, zerschossener Kiefer, Oberschenkelschussfraktur, alles im schummrigen Licht des Operationssaals, alles am ersten Tag. «Es war so heiss, dass wir den Ärztekittel auf dem nackten Oberkörper trugen», erzählt der 86-jährige Schaffhauser. «Kein Hemd, nur Kittel und Handschuhe.»

An jenem Donnerstag war es knapp zwei Jahre her, dass sich die Region Biafra im Südosten Nigerias von ihrem Mutterland abgespaltet und ihre Unabhängigkeit ausgerufen hatte. Sieben Jahre zuvor, im Oktober 1960, hatte Grossbritannien Nigeria in die Freiheit entlassen. Wie in den meisten der 18 afrikanischen Staaten, die im Schicksalsjahr 1960 von ihren ehemaligen Kolonialmächten ihre Unabhängigkeit erlangten, brachen auch in Nigeria wüste Kämpfe um die politische Vorherrschaft aus. Die im Süden lebenden Igbo fühlten sich von den im Norden lebenden Haussa unterdrückt. Mit der Ausrufung der Republik Biafra vor genau 50Jahren versuchten sie, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

Nuot Ganzoni hat im Biafra-Krieg 1969 verwundete Kämpfer verarztet.

Es folgte das übliche afrikanische Bürgerkriegsdrama: blutige Schlachten, Hunderttausende Tote, brutale Aushungerungstaktik durch das übermächtige Mutterland. Im Frühjahr 1969 zog Nigeria die Schlinge um Biafra täglich enger. Der Krieg wütete, und das Rote Kreuz suchte mit Hochdruck nach Ärzten, die sich für einen humanitären Einsatz in der umkämpften Republik zur Verfügung stellen würden.

Stöhnend, hoffend, sterbend

Nuot Ganzoni war 38 und hatte eben als Chef am neuen Zentrum für Verbrennungschirurgie am Unispital Zürich angefangen. Er meldete sich freiwillig. Seine Frau und seine Mutter gaben grünes Licht. Der Gedanke an seine vier Kinder brachte ihn kurz ins Zögern.

Doch sein Wille, die Aufgabe anzunehmen, war stärker. «Ich war durch meine Ausbildung und meine militärische Laufbahn darauf vorbereitet und gebannt von der Kriegschirurgie», erzählt Ganzoni in einem Café unweit seiner damaligen Wirkungsstätte. Doch etwas habe ihn umgetrieben: «Ich habe mich immer wieder gefragt, ob ich mich bewähren oder ob ich scheitern würde.» Der junge Chirurg behielt diese Gedanken für sich. Als er Mitte Februar in Genf mit seinem Team und 44 Kisten voller medizinischen Materials in die DC-7 stieg, wusste niemand ausser er davon.

Verschwunden waren die Zweifel auch nicht, als Ganzoni im umstellten Biafra ankam und sich vom lokalen Chefchirurgen Major Kalu durch das alte Missionsspital in Aboh führen liess. An der in Kisten abgepackten «medizinischen Übermacht», mit der sein Team angerückt war, konnte die Mission zwar nicht scheitern. Ganzonis kriegschirurgische Kenntnisse aber waren zu dem Zeitpunkt rein theoretisch. Er hatte Fachbücher gelesen über Notfallchirurgie im spanischen Guerra Civil und über chirurgische Eingriffe im Koreakrieg. Operiert aber hatte er ausserhalb der Hightech-Welt helvetischer Spitäler noch nie.

Sein neuer Wirkungsort war in drei Hauptteile gegliedert. Da war die halb offene Halle, wo die Verletzten direkt von der Kriegsfront angeliefert wurden, oft auf Lkw-Ladeflächen, abgeladen auf den nackten Hallenboden, stöhnend, hoffend, sterbend. Als «Stätte des verdichteten Elends» beschrieb Ganzoni die Ankunftshalle in einem der 21 Briefe, die er während seines dreimonatigen Biafra-Einsatzes an seine Frau schickte. «Hier lagen sie, voller Krusten und Schmutz, Blut und Schweiss» tippte der junge Familienvater auf seiner Schreibmaschine. «Ich schaute regelmässig in der Halle vorbei und ordnete die Patienten nach Schwere der Verletzung. Ich spielte Schicksal inmitten des Elends», erzählt Ganzoni. «Ich musste schnell entscheiden, für übermässiges Mitleid blieb keine Zeit.»

Der rettende Schuss

Angrenzend an die Ankunftshalle lag der Operationssaal, vielleicht 40Quadratmeter gross, zwei Operationstische und eine Bahre, die als notdürftiger dritter Operationstisch diente. Das war sein Reich, hier galt sein Wille, hier geschahen – inmitten des Elends – immer wieder kleine Wunder.

An manchen Tagen operierten Ganzoni und sein Team mehrere Dutzend zerfetzte Krieger. Am Osterwochenende waren es binnen 32 Stunden 97 Operationen. Manche Opfer hatten nur geringfügige Verletzungen, zum Beispiel Durchschüsse in der linken Hand. «Das reichte, um von der biafranischen Autorität als nicht kriegs- fähig eingestuft zu werden», erzählt Ganzoni. «Die meisten Handdurchschüsse waren Selbstverstümmelungen.» Eine Hand für die Freiheit: aus Sicht der verzweifelten Biafraner ein verkraftbares Opfer.

Nuot Ganzoni hat im Biafra-Krieg 1969 verwundete Kämpfer verarztet.

Nuot Ganzoni hat im Biafra-Krieg 1969 verwundete Kämpfer verarztet. / P. Renkewitz, IKRK

Und dann waren da die schweren Fälle, die Bauchverletzungen, Ganzonis Spezialgebiet. Er hat Buch geführt über die Eingriffe. Genau 100 waren es, 77überlebten. Ganzoni lehnt sich vor und bittet um Stift und Papier. Dann zeichnet er: einen durchtrennten Darm. Das Organ habe – grob gesagt – zwei Wände. Wenn man einen zerrissenen Darm flicken müsse, dann reiche es theoretisch, die beiden Wände in einer Nahtreihe zu fassen. Ganzoni kritzelt. «In Zürich haben wir natürlich trotzdem beide Wände separat genäht. In Biafra lag das nicht drin.»

Wer die Operation überlebte, wurde in einen der drei «Wards» verlegt. Anfänglich hatte jeder ein Bett, bald lagen die Operierten auch zwischen und neben und unter den Betten. Raum und Zeit, das waren Formen des Luxus, die in diesem Krieg keinen Platz hatten – auch im Leben der Kämpfer nicht. Allzu oft entflohen sie den «Wards» lange vor ihrer Heilung, gingen zurück an die Front, zurück ins Verderben. Stoppen liessen sie sich nicht.

Und Ganzoni plagte der Gedanke, dass er mit seinen chirurgischen Eingriffen womöglich nichts anderes tat, als verletzte Körper wieder kampffähig zu machen und zu helfen, einen längst verlorenen Krieg in die Länge zu ziehen. War es gar ein Fehler, dieser Biafra-Einsatz? Hätte er gar nie hinfliegen und helfen sollen? Wäre es … «Keine Wäre- und ‹Hätte-Fragen», unterbricht der pensionierte Chirurg. «Die führen nirgendwohin.»

Kultische Fleischeslust

Orangensaft und kurzes Schweigen. Dieser Krieg ist jetzt weit weg. Und irgendwie war er es auch damals. Die Arbeit hat ihn eingenommen, er hat operiert, oft bis zur Erschöpfung. Da war kaum Raum für Gedanken an den Kampf, der vor den Türen ablief. Klar, die versehrten Körper, die der Krieg in die Aufnahmehalle des Spitals spülte, das waren Zeugen der Gräuel, die sich in den waldigen Weiten jenseits der Spitalpforten abspielten. Und die Erzählungen der Söldner, die hie und da im Spital vorbeischauten – etwa vom Franzosen «Armand, qui tue froidement» –, erinnerten an den Horror, den sich die Kämpfer antaten.

Bedrohlich aber war das nicht. Ganzoni war der Menschenmechaniker abseits des blutigen Getümmels, der rastlose Lebensretter, der den Blick in die Abgründe dieses Krieges vermied. Er hätte nur abgelenkt. «Angst? Ich glaube, die hatte ich nie», sagt er. Ausser vielleicht dieses eine Mal, als ein nigerianischer Kampfflieger sein Feuer auf das Spital gerichtet hatte. Ganzoni duckte sich reflexartig unter den Operationstisch. Der narkotisierte Patient blieb oben liegen. Passiert ist nichts.

Ab und an verliess er das Spital und schwärmte aus ins Unvertraute. Da war das Bad im glasklaren Fluss; der Besuch einer Blutspende-Veranstaltung, an der Biafraner ihren Lebenssaft gegen Stockfisch eintauschten; ein Dorfmarkt, an dem «win the war meat» auf der Fleischertheke auslag. «win the war meat»: Den Unglückseligsten unter den Kriegsversehrten drohte unweit des Spitals ein grässliches Schicksal, das Ganzoni heute eigentlich nicht in Worte fassen möchte. Nur so viel: Der Glaube daran, durch Verspeisen des Gegners sich dessen Kampfeskraft einzuverleiben, war wohl weit verbreitet. Einer seiner Operationsgehilfen von damals bestätigte ihm seine dunkle Ahnung. Die Daumenballe, erzählte der Gehilfe, sei besonders schmackhaft.

Jahre später – Ganzoni arbeitete als Chefarzt im Kantonsspital Schaffhausen – stand plötzlich ein Herr aus Nigeria vor seiner Tür. Ganzoni erkannte Major Kalu, seinen biafranischen Chirurgenkollegen, kaum wieder. «In Biafra trug er immer seine Militäruniform. Ich hatte ihn nie in zivilen Kleidern gesehen», erzählt Ganzoni. Der Besuch kam ohne Voranmeldung, Ganzonis Tagesplan war prallvoll. Es blieb beim kurzen Schwatz. Major Kalu, hoffte Ganzoni, würde das verstehen. Manchmal aber quält ihn das schlechte Gewissen heute noch, sich den Luxus der Zeit damals nicht gegönnt zu haben.

Erschienen in der „Schweiz am Wochenende“ am 3. Juni 2017

Mit Lucy gegen gelbe Riesen

Chinas Engagement in Äthiopien steht beispielhaft für den neuen Kolonialismus, der Afrika heimsucht. Äthiopien könnte profitieren. Doch es regt sich Widerstand gegen die wirtschaftliche Vergewaltigung durch das fernöstliche Riesenreich.

Es dauert eine Weile, bis Herrn Wangs Smartphone fokussiert. Das Licht im Untergeschoss des äthiopischen Nationalmuseums in Addis Abeba ist schummrig, die Schaukästen düster. Herr Wang zoomt näher ran und drückt ab. Sein Sujet: Lucy, das Skelett des weiblichen Urmenschen, der vor 3,2 Millionen Jahren im äthiopischen Rift Valley gelebt und die äthiopische Regierung zum neuen Tourismus-Slogan «Land of Origins – Land der Herkunft» verleitet hat.

Herr Wangs Smartphone hat im düsteren Keller des Äthiopischen Nationalmuseums Mühe, auf Lucy zu fokussieren.

Herrn Wangs Landsleute erschienen erst sehr lange nach Lucys Ableben am Horn von Afrika. Der erste Kontakt zwischen der Region und dem Reich der Mitte fand im Jahr 6 nach Christus statt, als ein im Gebiet des heutigen Äthiopien gefangenes Nashorn als lebende Attraktion nach China verschifft wurde. Heute gehen die Waren mehrheitlich in die entgegengesetzte Richtung. 2015 lieferte China Kleider, Maschinen und Elektrogeräte im Wert von 3,4 Milliarden Dollar nach Äthiopien; mit 104 Millionen Einwohnern und einem Bevölkerungswachstum von jährlich 2,5 Prozent ein attraktiver Absatzmarkt für Billigwaren aus dem Fernen Osten.

China in Mussolinis Fussstapfen

Aus chinesischer Sicht ist der gewaltige Warenstrom aber erst der Anfang einer Güterflut, mit der man den äthiopischen Markt in den kommenden Jahren überschwemmen will. Noch in diesem Sommer soll eine neue Eisenbahnlinie zwischen Addis Abeba und dem Meerhafen im benachbarten Dschibuti, über den Äthiopien zwei Drittel seines Aussenhandels abwickelt, in Betrieb genommen werden. Gebaut wurde die Eisenbahnlinie von zwei chinesischen Staatsbetrieben, finanziert von drei chinesischen Banken. Sie ist Teil der chinesischen Initiative «One Belt, One Road», mit der das Riesenreich seine Handelsbeziehungen zu weit entfernten Märkten verbessern will.

Die stille Übernahme des äthiopischen Marktes durch den gelben Riesen geht nicht unbemerkt an den Einwohnern des grössten Binnenlands der Erde vorbei. Samson, der in Addis Abeba als Touristenführer arbeitet, sitzt in der neuen Hochbahn, die über die Wellblechdächer der Vier-Millionen-Metropole schwebt. «Auf jedem Gerät, das du in diesem Land findest, steht ‹Made in China›, auch diese Bahn hier: ‹Made in China›. Die Chinesen fluten Äthiopien mit ihren Maschinen. Und vor allem mit billigem Fashion-Ramsch», sagt Samson und zeigt auf seine Sneakers. «Alles Fake!» Das sei ungesund, meint der 28-Jährige. «Aber was sollen wir tun? Wenn wir unser Land wirtschaftlich voranbringen wollen, haben wir keine Wahl. China ist der grosse Partner, der uns aus dem Loch hilft.»

Samson (28) sieht die chinesische Präsenz in seiner Heimat kritisch. „Die Chinesen sind die neuen Italiener“, sagt der Tourguide aus Addis Abeba.

Dann senkt Samson die Stimme. Äthiopien, sagt er, sei das einzige Land Afrikas, das nie kolonialisiert wurde – mit Ausnahme der paar Jahre in den 30ern und 40ern, als Mussolinis Faschisten hier Fuss zu fassen versuchten. «Und jetzt brechen wir mit unserer Geschichte und werfen uns den Chinesen zu Füssen. Das ist doch Verrat an uns selbst.»

Chinas Engagement in Äthiopien ist nicht neu. Schon Anfang der 70er-Jahre baute der gelbe Riese hier Fussballstadien. Die Unterstützung hatte ideologische Gründe. Man hoffte darauf, die Äthiopier für die kommunistischen Ideale gewinnen zu können.

Halb so teuer wie Bangladesch

Heute sind Chinas Annäherungsversuche an das mausarme ostafrikanische Land kapitalistisch motiviert: Peking will Absatzmärkte erschliessen, Konsumenten binden und neuerdings auch Produktionspotenziale ausloten. Eine Art Testbetrieb ist die vor sieben Jahren eröffnete «Eastern Industry Zone» östlich von Addis Abeba, wo Arbeiter Schuhe der chinesischen Marke Huajian und Motoren für Lifan-Autos zusammenbauen. Die strengen äthiopischen Arbeitsgesetze garantieren, dass in den Fabriken ausschliesslich Einheimische angestellt werden. Als Ausländer darf hier nur arbeiten, wer spezielle, in Äthiopien gefragte Qualifikationen mitbringt. Ein «Inländervorrang», wie ihn sich bürgerliche Kreise in der Schweiz sehnlichst wünschen.

So sehen die allermeisten Überlandstrassen in Äthiopien aus – noch. China will die meisten von ihnen ausbauen.

Chinas Ausschau nach günstigen Produktionsstandorten in Afrika kommt Äthiopien gerade recht. Jeder fünfte hier ist arbeitslos, der Durchschnittslohn mit 619 Dollar pro Jahr tief wie kaum irgendwo auf der Welt. Das spricht sich langsam herum bei den internationalen Produzenten, die stets auf der Suche sind nach billigen Arbeitskräften. Erst kürzlich haben holländische Unternehmer am Ufer des Sees Ziway eine riesige Gewächshaus-Kolonie aufgestellt, in der 17000 Angestellte Rosen züchten. Ein Arbeiter verdient hier 40 Birr am Tag (rund 1.70 Franken): etwa halb so viel wie ein Schneider in den Sweatshops in Bangladesch.

Sie stellen keine Fragen

Ein paar Kilometer nördlich des Ziway beginnt die neue, sechsspurige Autobahn, sie verbindet die südlich liegende Provinzstadt Adama mit Addis Abeba. Gebaut und finanziert haben sie – natürlich – die Chinesen. «So schnell und günstig wie sie ist sonst niemand, schon gar nicht die Europäer, die hier ebenfalls seit Jahren Strassen bauen», sagt Fitsum Gezahegne. Er sitzt mit einer Gruppe Journalisten in einem Mercedes-Minibus und braust über die verregnete Autobahn.

«Aus äthiopischer Sicht haben die Chinesen noch einen Vorteil: Sie stellen keine Forderungen und kaum Fragen», sagt Fitsum. Anders als etwa europäische Investoren, die ihre Hilfeleistungen von der Einhaltung der Menschenrechte oder der Bezahlung fairer Löhne abhängig machten, seien diese Dinge den Chinesen gänzlich egal. Sie bauen einfach, ohne Kritik an den Umständen zu üben. «Das weckt natürlich auch Ängste. Man fragt sich, wie weit sie gehen würden, um ihre Ziele zu erreichen», sagt Fitsum. Auf dem Trennstreifen in der Mitte der Autobahn blühen Oleander. Am Strassenrand machen «Buckle up!»-Schilder auf die Anschnallpflicht aufmerksam. Rechts taucht ein riesiges Fabrikgelände mit der Aufschrift «Jin Bei Motors China» auf.

Die halb verschlossenen Eingangstore der „China Seventh Railway Group“, die an der neuen Eisenbahnlinie zwischen Addis Abeba und der Küste in Dschibuti mitgebaut hat.

Autos sieht man hier auf der bislang einzigen Autobahn des Landes praktisch keine. Äthiopien hat die geringste Auto-pro-Kopf-Dichte der Welt. Autos – auch halb kaputte Occasionen – gelten offiziell als Luxusgüter und werden mit einer 200-prozentigen Einfuhrsteuer belegt. Das kann sich nur jeder 500. Äthiopier leisten.

Lucys Geheimnis

Nach 85 Kilometern endet die Autobahn in den südlichen Vorstadtquartieren von Addis Abeba. Hier werden derzeit Hunderte neue Wohnblocks gebaut, um die rasant wachsende Bevölkerung unterbringen zu können. Auch einzelne Hotelanlagen entstehen am Stadtrand. Äthiopien investiert viel Geld in die touristische Infrastruktur. Der Tourismus, so die Hoffnung, soll das Land wirtschaftlich unabhängig machen und aus der bedrückenden Umarmung der chinesischen Wirtschaftsmacht befreien. Statt der heute 850000 sollen bis 2020 jährlich drei Millionen Touristen das Land besuchen. Die Landschaften dazu hätte der bitterarme Staat. Auf einer Fläche 27-mal so gross wie die Schweiz versammeln sich Regenwälder, aktive Vulkane, wilde Gebirgsketten und unberührte Steppen.

Und dann ist da natürlich Lucy, der Urmensch, die 3,2 Millionen Jahre alte Stammesmutter unserer Spezies. Eine Attraktion. Herr Wang betrachtet das Foto des Lucy-Skeletts auf seinem Smartphone und nickt. Was der chinesische Geschäftsmann nicht weiss: Lucys echte Knochen liegen gut geschützt in einem Safe im Keller des Museums. Die Knochen in der Vitrine vor ihm sind Replika aus Gips. Sie sind Fake – und Herr Wang hat es nicht einmal bemerkt.

Auch die Sidaama im Hinterland Zentraläthiopiens können den Krallen Chinas nicht entkommen. Ihren traditionell zubereiteten Kaffee reichen sie in Plastikbechern, „made in China“.

Erschienen in der „Schweiz am Wochenende“ am 27. Mai 2017.

 

Die Luft wird dünner für Eritreer

Ist Eritrea gar nicht der Unrechtsstaat, als den ihn Flüchtlinge schildern? Ein neues Buch wirft diese Frage auf, ein Gerichtsentscheid schmälert die Chancen auf Asyl und der Vertreter der Eritreer in der Schweiz wirft seinen Schützlingen «Lügen» vor. Doch Yemane Yohannes weiss, dass die Situation für seine Landsleute bedrohlich ist – ganz egal, was die externen Betrachter sagen. 

Von Samuel Schumacher

Das Buch macht Yemane Yohannes jetzt schon Angst, obwohl er es noch gar nicht gelesen hat. Der 29-jährige Eritreer starrt auf das ausgedruckte PDF vor ihm auf dem Café-Tischchen. Dann beginnt er zu erzählen, auf Hochdeutsch. Ab und zu rutscht ihm ein Dialektbegriff dazwischen. «Ich fürchte, dass dieses Buch die Zustände in meinem Heimatland beschönigt. Ich denke, dass es den Eritreern in der Schweiz zimmli schaden wird.»

Das Buch heisst «Eritrea – der zweite Blick». Geschrieben hat es der Basler ­Jurist und Eritrea-Kenner Hans-Ulrich Stauffer. Stauffer sagt, die aktuelle Debatte werde dem ostafrikanischen Kleinstaat nicht gerecht, der westliche Blick auf ­Eritrea sei zu einseitig.

Wie aber ist die Wirklichkeit in diesem Kleinstaat, der jahrelang keine Journalisten mehr ins Land liess und sich den Ruf eines «Nordkorea Afrikas» erarbeitet hat? Berichte über eritreische Flüchtlinge, die für Kurzurlaube in die Heimat fliegen, haben die Diskussionen über das «wahre Eritrea» jüngst wieder angeheizt. Das seien Regime-Anhänger gewesen, die hier als Spitzel für die eritreische Regierung gearbeitet hätten, sagt Yemane. Würde ein Regimekritiker wie er für einen Kurzurlaub nach Eritrea zurückkehren, dann würde man ihn sofort verhaften. Statt den partymachenden Regime-Unter­stützern soll man besser dem jüngsten UNO-Bericht glauben. Der Bericht vom Juni 2016 belegt, dass Sklaverei, Folter, aussergerichtliche Hinrichtungen und Diskriminierung in Eritrea immer noch an der Tagesordnung sind.

Ein altes Wartehäuschen nahe eines Flüchtlingsaufnahmezentrums in Basel.

Je mehr man über Eritrea hört, umso mehr erscheint das Land wie eines dieser Escher-Bilder, auf dem Menschen – je nach Betrachtungsweise – die Treppe hoch- oder die Treppe hinabsteigen. Fragt man Yemane, dann befindet sich Eritrea auf dem Abstieg. «Die Menschen fliehen aus Eritrea, weil sie brutal unterdrückt werden», sagt er. Auch er floh vor acht Jahren, nachdem er wegen ein paar kritischer Fragen an der Uni im Gefängnis gelandet war, gefoltert und auf ­unbestimmte Zeit zu Militärdienst ­verdonnert wurde.

Die «Lügen» der jungen Eritreer

Flüchtlinge wie Yemane haben das Eritrea-­Bild im Westen mit ihren Erzählungen stark geprägt. Stauffer will das mit seinem Buch ändern, er will die Wahrnehmung korrigieren. Er will zeigen, dass Eritrea langsam, aber stetig die Treppe hinaufsteigt. Damit stösst er auf grosses Interesse. An der Vernissage seines Buches in Basel erschienen 150 statt der erwarteten 30 Leute. Unter ihnen war auch Toni ­Locher, Honorarkonsul Eritreas in der Schweiz und persönlicher Bekannter des eritreischen Präsidenten Isaias Afewerki.

Für Locher ist klar: Die Schweiz hat sich von der «Negativ-Propaganda» der Flüchtlinge allzu lang einlullen lassen. «Unser Bild von Eritrea basiert auf vielen Lügengeschichten. Wir müssen wegkommen vom steten Recycling alter, falscher Sichtweisen», sagt Locher am Rande des Vernissagen-Apéros. «Viele der ganz ­jungen Eritreer bauen ihren Asylantrag auf einem Lügengeflecht auf.» Sie hätten den vermeintlich schlimmen Nationaldienst gar noch nicht antreten müssen. Und sowieso müsse man das mit dem Nationaldienst in den richtigen Relationen sehen, sagt Locher. «In der Schweiz muss auch jeder in die RS. Mein Vater stand im 2. Weltkrieg vier Jahre lang an der Grenze.» Vor einer Woche habe Äthiopien Eritrea wieder mit einem Angriff gedroht. «In einer vergleichbaren Situation hätten wir auch in der Schweiz die volle Mobilmachung.»

Fast 40 Prozent der 5178 Eritreer, die 2016 in der Schweiz um Asyl baten, waren zwischen 16 und 25 Jahre alt. Viele von ihnen sind wohl tatsächlich geflohen, ­bevor sie für den Nationaldienst antreten mussten. Für sie dürfte es in Zukunft schwieriger werden, in der Schweiz Asyl zu erhalten. Denn im Januar hat das ­Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass die illegale Ausreise aus Eritrea ­alleine nicht mehr ausreicht, um in der Schweiz Asyl zu erhalten.

Für Locher ist der Gerichtsentscheid ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn abgewiesene Eritreer nach wie vor nicht in ihre Heimat zurückgeschafft ­werden können. «Man muss den ­Eritreern klarmachen, dass hier nicht das Paradies auf sie wartet. Vielleicht wäre eine Videokampagne wie in Nigeria angebracht.» Ende 2015 waren vier von fünf in der Schweiz lebenden Eritreern auf Sozialhilfe angewiesen. Kein Zustand, findet Locher. «In Eritrea könnten sie im Nationaldienst sinnvolle Arbeit leisten und stolz darauf sein.» Das sei besser, als hier nutzlos an Bahnhöfen rumzusitzen.

Scheinheilige Schweiz?

Ein Gerichtsentscheid, der den Traum auf Asyl in weite Ferne rücken lässt; ein Honorarkonsul, der die Menschen, die er vertritt, als Lügner wahrnimmt; ein Buch, das Eritrea als fortschrittlichen Staat darstellt: Die Luft wird dünner für Eritreer, die auf Asyl in der Schweiz ­hoffen. Alan David Sangines beobachtet diese Entwicklung mit Sorge. Der Zürcher SP-Gemeinderat und Asylpolitiker befasst sich intensiv mit der Menschenrechtslage in Eritrea. Er glaubt nicht, dass der Bundesverwaltungsgerichtsentscheid irgendjemandem etwas nützen wird, auch der Schweiz nicht. «Indem das Bundesamt für Migration negative Asylentscheide für Eritreer fällt, werden unnötig zusätzliche Sans-Papiers produziert. Diese Menschen können nicht in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden und darben dann hier vor sich hin», sagt Sangines.

Ganz ähnlich sieht das Ron Halbright von der Organisation «National Coalition Building Institute», die sich als Brückenbauerin zwischen Eritreern und Schweizern sieht. «Die Schweiz kann man mit diesem Gerichtsentscheid nicht unattraktiver machen für eritreische Flüchtlinge. Sie können der Helvetia einen Schnauzbart aufmalen. Die Eritreer finden die Schweiz trotzdem noch wunderschön und wollen hierhin kommen», sagt Halbright.

Er nervt sich über die scheinheiligen Aktionen, mit denen die Schweiz Eritrea neuerdings zu Hilfe eilt. Dass die Migrationsbehörden in Eritrea seit gut einem Jahr ein Berufsbildungsprojekt ­aufgleisen, das sei auf den ersten Blick zwar toll. «Das geschieht aber nicht primär, weil sich die Situation in Eritrea positiv verändert hätte, sondern weil man die Flüchtlingsströme reduzieren und deren Rückkehr nach Eritrea erzwingen will», sagt Halbright.

Wie im KZ Theresienstadt

Das sei wohl auch das Ziel von Stauffers Buch, vermutet Halbright. «Viele Eritreer hierzulande haben Angst, dass Stauffer die Zustände in Eritrea zu positiv schildert, was benützt werden könnte, um die Rückschaffung eritreischer Flüchtlinge aus der Schweiz zu rechtfertigen.»

Hans-Ulrich Stauffer hat „einen zweiten Blick“ auf Eritrea geworfen. Er glaubt, die Schweiz beurteile die Lage im ostafrikanischen Land zu negativ.

Stauffer im Dienst jener Kreise, welche die eritreischen Flüchtlinge rasch aus der Schweiz weghaben wollen? Kaum. Der Rotbuchverlag, der Stauffers Buch ­herausgibt, wurde 1976 mit dem Ziel gegründet, «die Verbreitung sozialistischer Literatur zu fördern». Und wer mit Stauffer spricht, der trifft auf einen aufrichtig Forschenden, der mit hehren Zielen ­immer wieder nach Eritrea reist, weil er fest daran glaubt, dass nur verstehen kann, wer sieht, und nicht, wer immer nur liest. Für sein Buch ist er viermal für jeweils zwei Wochen quer durch das Land gefahren und hat über 100 Interviews geführt.

Und Halbright? Er sei noch nie in ­Eritrea gewesen, gibt der Brückenbauer zu. Das würde aber auch gar nichts ­bringen, sagt Halbright und erzählt vom KZ Theresienstadt, das die Nazis hergerichtet hätten, um Besuchern zu zeigen, wie vorbildlich sie mit den jüdischen ­Gefangenen umgingen. So ähnlich sei das in Eritrea. «Besucher müssen aufpassen, dass sie nicht instrumentalisiert werden. Wie es den Menschen in den ­Gefängnissen wirklich geht, wer kann das denn schon sagen?»

Yemane kann das. Er war da, monatelang, wurde gefoltert und verhört, er hat die eritreischen Gefängnisse von innen gesehen. Er sagt: «Es ist unmöglich für einen Ausländer, das wahre Eritrea zu sehen. Selbst für Regime-kritische ­Eritreer ist das sehr schwierig.» Yemane atmet tief ein und trommelt mit seinen Fingern auf dem Cafétisch. Niemand wisse mit Sicherheit, wie viele Gefängnisse es in Eritrea gäbe. Niemand wisse, welche Menschenrechtsverletzungen in diesen Gefängnissen passierten. Eines aber wisse er mit Sicherheit: «Die Rückkehr nach Eritrea ist lebensgefährlich.» Wenn Hans-Ulrich Stauffer in Eritrea mit Rückkehrern gesprochen habe, die ihm etwas anderes gesagt hätten, dann gäbe es dafür nur eine Erklärung: «Dann waren das entweder Menschen, die im Ausland für das Regime als Spitzel gearbeitet hatten, oder Lügner.»

Wer lügt und wer nicht und ob die Wahrheit wirklich findet, wer sie sucht, das bleibt weiter ungeklärt. Vielleicht ist es wirklich wie bei Escher: Die Treppe, die scheinbar hinauf- und gleichzeitig hinunterführt, die führt in Wirklichkeit nirgendwohin. Sie ist eine optische Täuschung. Eine greifbare Wahrheit liegt ihr nicht zugrunde. Und die Menschen, die auf der Treppe gehen, kommen nie da an, wo sie eigentlich hinwollen.

Erschienen in der „Schweiz am Wochenende“ am 1. April 2017.

Wandern auf wilden Drachen

Die Chinesische Mauer ist das grösste Bauwerk der Menschheitsgeschichte – und ein einzigartiger Trekkingpfad.

Herr Wu weiss nicht, was er ohne die Mauer tun würde. Er hat es sich nie überlegt. Wieso auch? Die Mauer war schliesslich immer da, hat sich ewig über die Hügel hinter seinem Haus gezogen, scheinbar ohne Anfang und ohne Ende. Vor langer Zeit waren hier Soldaten stationiert, das weiss Herr Wu. Die standen auf der Mauer und starrten Richtung Norden. Da lauerten die mongolischen Reiterheere, die das chinesische Kaiserreich während Jahrhunderten bedrohten.

Die Mauer war ein Schutzwall, der diese Fremden fernhalten sollte. Heute tut sie das Gegenteil: Sie zieht Fremde an. Fremde wie uns, die diesen Gewaltsbau in seiner Endlosigkeit erleben wollen. Gut, endlos mag ein bisschen übertrieben sein. Aber immerhin: Mit ihren gut 20000 Kilometer Länge ist die Chinesische Mauer das mit Abstand grösste Bauwerk der Menschheitsgeschichte.

Herr Wu (88) ist seit 20 Jahren Mauerwächter.

Herr Wu findet es gut, dass die Mauer jetzt die Fremden anlockt. Schliesslich verdient er als Mauerwächter sein Geld mit den Wanderern, die hier am Übergangspass zwischen der Jiankou-Mauer und der Huanghuacheng-Mauer vorbeikommen. Herr Wu kassiert die Wandergebühren, die jeder Mauertrekker entrichten muss. Und natürlich möchte er auch möglichst viele der kleinen Mao-Bibeln und vergilbten Postkarten verkaufen, die neben ihm auf den Mauerzinnen liegen.

Früher, als er noch besser sehen konnte, hat Herr Wu in den Kastanienwäldern im Schatten der Mauer gearbeitet. 20 Jahre sei das her. Seither steht der 87-Jährige auf dem einsamen Mauerpass und wartet auf Wanderer. Sagen tut er nicht viel, und wenn, dann so leise, dass man ganz genau hinhören muss, um den Greis mit dem verwaschenen Mao-Käppchen und dem viel zu grossen Hemd zu verstehen.

Der Wall verwildert

Die Verschnaufpause, die uns die Begegnung mit Herr Wu beschert, kam gerade recht. Denn der bevorstehende Aufstieg auf die Huanghuacheng-Mauer ist steil und wild. Seit vier Tagen wandern wir nun schon auf der Chinesischen Mauer, weit ab von jenen top restaurierten Mauerabschnitten nahe der Hauptstadt Peking, zu denen jeden Tag Tausende Grossstadtmenschen mit Selfie-Sticks und Turnschuhen reisen, um sich mit Gondelbahnen auf die Mauer fahren zu lassen und ein paar Erinnerungsbilder zu schiessen. Die Mauerabschnitte, die wir uns für unsere Trekkingreise vorgenommen haben, sind einsam, wild, oft kaum restauriert und von den Touristenströmen verschont. Zehn Tage lang begegnen wir keinem einzigen anderen Wanderer.

Lange war die Mauer aber alles andere als menschenleer. Zu Zeiten der Ming-Kaiser, die China zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert regiert hatten und den Mauerbau wie keine andere Dynastie vorantrieben, marschierten hier bewaffnete Bataillone auf und ab. Entlang der Mauer entstanden Dörfer und kleine Städte, welche die Soldaten mit Nahrung versorgten und vom blühenden Handel im Schatten der Mauer profitierten. Die sogenannte Ming-Mauer stellte die nördliche Grenze des chinesischen Grossreiches dar, verlor nach dem Einmarsch der Mandschuren 1644 aber ihre Bedeutung und verwilderte zusehends.

Das bekommen wir heute zu spüren. Die Huanghuacheng-Mauer ist überwuchert mit allerlei Gestrüpp, der Trampelpfad ist uneben und schmal. Wir ducken uns unter Ästen durch und drücken mit den Wanderstöcken dornige Büsche weg.

Doch trotz den Büschen und den unebenen Passagen: Die Mauer ist mindestens punkto Aussicht einer der spektakulärsten Wanderwege der Welt. Damit die Soldaten zu Zeiten der Ming-Kaiser stets den Überblick behalten konnten, wurde sie konsequent den Hügelkämmen entlang gebaut, also immer an der topografisch höchsten Stelle der Landschaft. Für uns Mauer-Wanderer heisst das: fantastische Ausblicke auf alle Seiten hin. Und: gelegentlich kühle Windstösse, die über die Kreten kriechen und uns im warmen chinesischen Frühling mehr als willkommen sind.

Für die Chinesen ist die Mauer aber weit mehr als nur ein Bauwerk. Sie ist steingewordene Symbolik, sagenumwobene Brutalarchitektur. Beim Anblick des Mauerabschnitts bei Jinshanling sieht unser Guide zum Beispiel sofort einen schlafenden Drachen. Gestern, als wir die Wohushan Mauer erklommen haben und vom Dach des halb zerfallenen Wachturms aus zusahen, wie die Sonne hinter tausend mattblauen Hügeln versank, sagte er: «Die Mauer hier erinnert mich an einen kauernden Tiger.»

Der Moloch am Horizont

Drachen, Tiger…und natürlich Schlangen! Auch auf sie treffen wir, im architektonischen Sinne, auf unserer Trekking-Tour im abgelegenen Jiankou-Tal. Unser Guide erkennt in der Jiankou-Mauer eine weisse Schlange, die sich durch die felsige Landschaft frisst. Auf dem Rücken dieser weissen Schlange kraxeln wir hoch zum «Neun-Augen-Turm», einem der grössten erhaltenen Wachtürme der Chinesischen Mauer, fast so gross wie eine durchschnittliche Schweizer Burg. Auf alle vier Seiten hin hat er neun Fenster. Wer an einem klaren Tag durch eines der Südfenster schaut, kann in weiter Ferne die Skyline von Peking erkennen; jene Stadt, in der die Ming-Kaiser ihren Regierungssitz hatten; jene Stadt, zu deren Schutz dieser Wahnsinnsbau von Hunderttausenden Soldaten, Bauern und Kriegsgefangenen errichtet wurde.

In Peking, der 25-Millionen-Metropole, hatten wir unsere Reise gestartet. Eine andere Welt, eine laute Welt voller Wolkenkratzer und Kaisertempel, voller emsiger Gassen und Industriebrachen, voller Düfte und riesiger Menschenmassen, voller hupender Verkehrsstaus und stickiger Luft. Kurz: ein keuchender Monsterdrache von einer Stadt. Vom Ausguckfenster des Neun-Augen-Turms herab sieht er trotzdem ganz friedlich aus, der Moloch in der dunstigen Ferne. Fast so, als hätte er Angst, mit zu viel Krach und Gefauche die noch viel riesigeren Drachen und Tiger und Schlangen aufzuwecken, die sich im Norden wild, wuchtig und wunderschön durch das Riesenreich ziehen.

Zuerst erschienen in der „Schweiz am Wochenende“ am 25. März 2017

Im Tal der Wölfe

Im Walliser Val d’Anniviers hat jemand einen Wolf gewildert. Die Suche nach dem Täter bleibt aussichtslos – trotz Kopfgeld.

David Gerke stapft durch den Schnee. Sein Border Collie Mila hüpft ihm von Fussstapfe zu Fussstapfe hinterher. Anstrengend ist das. So anstrengend, dass Mila nicht einmal die beiden Gämsen bemerkt, die steil links unten durch den Walliser Winterwald springen.

Die Anstrengung sei bitternötig, sagt Gerke, Präsident der Gruppe Wolf Schweiz. Denn hier hinten im Val d’Anniviers hat ein Wilderer vor einem Monat einen Wolf erschossen. Gerke hat 10000 Franken für Hinweise auf die Täterschaft ausgesetzt. Er will den Wilderer finden. Er will, dass es den Wallisern nicht egal ist, wenn der Wolf in ihren Tälern illegal gejagt wird. Es gebe Gerüchte, ruft Gerke über die Schulter. Der Metzger seis gewesen, habe ihm einer gesagt. Wohl nur eine Dorffehde. Gerke will sich erst einmal vor Ort umhören.

Das Wallis hat ein kompliziertes Verhältnis zum Wolf. Nachdem das Tier im 19. Jahrhundert aus dem Rhonetal verschwand, hatten die Schafhirten 100 Jahre lang Ruhe vor den grauen Jägern. In den 90ern wanderte der Wolf von Italien her wieder ein. Und seit er die ersten Schafe gerissen hat, flammt der alte Walliser Hass auf das Wildtier auf.

David Gerke: ein Üsserschwizer mit schwierigier Mission im Wallis.

Es sei ganz einfach, sagt Gerke. «Die Schäfer müssen ihre Herden besser schützen.» Dafür erhielten sie schliesslich Subventionen: für einen Herdenschutzhund jährlich 1100 Franken, pro Laufmeter Zaun 70 Rappen. Das kostet den Bund jedes Jahr 2,9Millionen Franken. Auch die Gruppe Wolf Schweiz würde Hirten unterstützen. «Sie sind aber nicht zugänglich für unseren Rat und unser Geld», sagt Gerke und hält inne. Er zeigt in den Schnee. «Dachsspuren.» Kurzer Blick ins Tal, kein Wolf weit und breit, drum vorwärts, in den Wald hinein.

Immer diese Üsserschwizer

In der Schweiz werden jedes Jahr rund 300 Schafe und Ziegen von Wölfen totgebissen, 1,5 Promille der gut 200000 Tiere, die den Sommer auf der Alp verbringen. Wenig, eigentlich. Dass Schafzüchter wütend werden, wenn der Wolf sich in ihre Herden verbeisst, das kann Wolfschützer Gerke trotzdem verstehen. Er hat auch nichts dagegen, wenn man Wölfe unter bestimmten Bedingungen abschiesst. «Aber das ewige Gerede von der nötigen Regulierung», sagt Gerke und sucht nach dem richtigen Wort. «Wenn die Wolfsgegner von Regulierung sprechen, dann meinen sie immer Ausrottung.» Das sei Wunschdenken. Der Wolf komme, ob das den Wallisern passe oder nicht. «Und wenn er kommt, dann wird er bei den Züchtern für eine Selektion sorgen: Wer sich anpasst, der überlebt. Wer stur bleibt, nicht.»

Das Echo auf solch deutliche Worte hallt von den felsigen Walliser Wänden wider. Vor allem, wenn sie von einem wie Gerke kommen, einem Solothurner. Dass ein «grüner Üsserschwiizer» wie er sich hierhin, in die himmelhoch umstellten Bergtäler, wagt und den Wallisern vorhält, was sie vom Wolf zu denken haben, das gebe ab und an Probleme. Doch ihm sei das egal, sagt Gerke. Der Wolf sei ein national geschütztes Tier. «Und das Wallis ist immer noch Teil der Schweiz.» Zudem dürften die Walliser ja auch darüber abstimmen, ob die Atomkraftwerke bei ihm zu Hause im Mittelland abgeschaltet werden sollen oder nicht.

Atomkraftwerke sind grad die geringste Sorge von Georges Schnydrig. Der Gemeindepräsident des 700-Seelen- Dorfes Lalden arbeitet zwar tagsüber für einen Energiekonzern. Sein Herz aber, das schlägt für seine 40 Schwarznasenschafe. Und es schlägt gegen den Wolf. Deshalb ist Schnydrig Präsident des Vereins «Lebensraum Wallis ohne Grossraubtiere». Und deshalb erzählt er dem Reporter gern, wie das wirklich ist mit dem Wolf und dem Wallis. Schnydrig steht in der neonerleuchteten Wärme seines Stalls, umblökt von seinen Schafen, und spricht so schnell, dass es für das ungeübte Üsserschwiizer Ohr passagenweise schwierig ist, zu folgen. «10000 Franken, das ist doch krank», ruft Schnydrig durch den Stall. Das sei ja mehr, als er bekäme, wenn er bei «Aktenzeichen XY… ungelöst» helfen würde, einen Mord aufzuklären. «Das sind Fantasten, diese Wolfsfreunde, Fantasten!»

Trotz den 10000 Franken: Schnydrig würde den Wilderer nicht verraten. Er wisse nicht, wers war, sagt Schnydrig und schiebt mit dem Fuss ein paar Heubüschel zur Seite. Er selber würde aber auch schiessen, wenn ihm eines dieser Biester vor der Nase durchschliche. «Das ist ja logisch.»

Schnydrig weiss, wie das ist, wenn einem der Wolf ein Schaf raubt. Ihm ist das vor vier Jahren selbst passiert. «Die Wölfegehören nicht ins Wallis», ruft Schnydrig. «Punkt.» Als der Wolf vor 20 Jahren plötzlich wieder im Tal aufgetaucht sei, da hätten alle gesagt: Ihr Neandertaler da im Wallis, stellt euch nicht so an, schont den Wolf!» Jetzt aber, wo sich der Wolflangsam ausbreite im Alpenraum, wo allmählich allen klar werde, wie gefährlich dieses Tier sei, jetzt ändere sich die Meinung. «Jetzt fängt das Spiel an. 2017 wird ein gutes Jahr», sagt Schnydrig siegesgewiss und krault einem seiner Schafe den Kopf. Schon in sieben Kantonen gebe es «Lebensraum»-Vereine. «Wenn wir jetzt nichts tun, dann müssen wir unsere Alpen bald wieder verbarrikadieren wie im Zweiten Weltkrieg.»

All die Vorschläge zur Verbesserung des Herdenschutzes kann Schnydrig nicht mehr hören. Alpen zusammenlegen, damit man sich einen Hirten leisten kann? Kaum möglich für die kleinstrukturierten Walliser Betriebe. Einen Hund anschaffen, nur weil man Schafe züchten will? Der Aufwand wäre riesig. Beim Nachwuchs Werbung machen, damit die Schafzüchter-Tradition überlebt? Es würde ja auch kein Junger ein Auto kaufen, wenn er wüsste, dass ein Monster das Gefährt am nächsten Tag zerfetzte. «Zom Chotze» sei das alles, findet Schnydrig. Darum gebe es nur eines: Der Wolf muss weg. «Fertig.»

Irgendwo im Val d’Anniviers lebt ein Walliser mit schlechtem Gewissen. Gerke wird ihn wohl nie finden.

Auf politischer Ebene gibt es mehrere Vorschläge, die dem Wolf das Leben schwer machen könnten. Doch Schnydrig weiss, dass der politische Weg riskant ist, weil die Stimmen all der ahnungslosen wolfsfreundlichen Städter schliesslich doch überwiegen könnten. Gegen diese Ahnungslosen, gegen die Städter, gegen sie habe er nichts, wirklich nicht, ruft Schnydrig durch den Stall. Aber die «locker-flockigen Pro-Wolf-Sprüche», die manch einer ennet der Alpen als eine Art verbalen Naturschutzakt missverstehe, die gingen ihm auf die Nerven. Die sollen halt mal hierhin kommen zu ihm in den Stall nach Lalden, das mal sehen hier. Dann würden sie realisieren, dass das «Null Komma null Logik macht», dass sich die Hunde im Mittelland nur in umzäunten Freilaufzonen austoben dürften, während der Wolf im Wallis ungehindert herumstreunen könne.

Die doppelte Strafe

Das sind die Fronten, die das Land am Rhonestrand so jäh durchzerren. Wer nach Versöhnung sucht, der findet sie im Weiler Hegdorn ob Naters. Hier, in der Stube der Familie Theler, steht der «Tisch des Konsens». Eine passende Bezeichnung, findet Christian Theler. Theler ist Förster, Hilfswildhüter, Landschaftsschützer und Ranger. Er kennt die verschiedenen Perspektiven, und er teilt sie: alle ein bisschen. Sohn Ismael ist Jäger. Sohn Elia ist Schäfer. Ehefrau Miriam ist neutral. Und er, Christian, will keinen Streit.

Also setzt man sich hin und sucht nach Wegen raus aus dem Wolfs-Patt. Ein typischer Abend am «Tisch des Konsens», nur etwas ist anders als sonst: Statt Wein gibts Tee. Schliesslich ist Fastenzeit. Und gewisse Traditionen soll man wahren. Auch die Tradition der Nebenerwerbslandwirtschaft, findet Theler. Manche Walliser Familien bewirtschaften nebenher mit Schafherden ein paar Steilhänge und beugen damit der Verwilderung der gächen Matten vor. Der Wolf aber, der könnte dieser Tradition den Garaus machen. «Er beschleunigt den Strukturwandel», sagt Theler. Die Bewirtschaftung der Steilhänge werde wegen der nötigen Herdenschutzmassnahmen immer aufwendiger. Der Trend gehe deshalb Richtung Grossbetriebe.

Als Förster aber sei er ein Wolfsfreund, sagt Theler. «Der Wolf hilft bei der Regulierung der Wildbestände und dient damit der Waldverjüngung.» Weniger Jungwild heisst weniger Schabschäden an den Jungbäumen. Und ja, sagt Theler, der Ranger: Der Wolf sei halt einfach auch ein schönes Tier. Und diese Kraft: 150 Kilo Druck pro Quadratzentimeter, wenn er zubeisst. «Beeindruckend.»

So oder so: «Ein wolffreies Wallis wird es nie mehr geben», sagt Theler, ob die Mehrheit nun für oder gegen den Wolf sei. Irgendwann werde sich das ganze Wallis rund um einen imaginären Tisch setzen und einen Konsens finden müssen, etwas anderes bleibe nicht übrig. Und die 10000 Franken? «Dramatisch viel Geld», findet Theler. Vielleicht sei das aber nötig. «Bisher wurde nämlich nicht richtig ernsthaft gefahndet.»

Einmal pro Woche stapft Gerke durch die Walliser Täler. Man kennt ihn – und die meisten meiden ihn.

Zurück im Val d’Anniviers. David Gerke steht vor jenem Waldbord, wo vor einem Monat jemand den erschossenen Wolf, ein ausgewachsenes Weibchen, hingeworfen hat. Wohl in der Absicht, dass der Kadaver gefunden werde. «Stimmungsmache», sagt Gerke und sucht im steilen Bord die Stelle, an der die tote Wölfin gelegen hatte. Die exakte Stelle findet er nicht. Dafür ein Warnschild. TOUT DEPOT DE MATERIAUX INTERDIT SOUS PEINE D’AMENDE, steht darauf. Dem Wolfstöter droht bei der Ergreifung also nicht nur eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr wegen Wilderei, sondern auch eine Ordnungsbusse der Gemeinde Anniviers – wegen unerlaubter Abfallentsorgung.

Es wäre erst das zweite Mal in der Schweizer Geschichte, dass jemand für die illegale Erschiessung eines Wolfes büssen müsste. So richtig zuversichtlich ist Gerke nicht. Alles, was er bisher in den Händen hält, sind Gerüchte. Und mit Gerüchten allein fängt man im Wallis keine Wolfstöter.

Erschienen in der „Schweiz am Wochenende“ am 18. März 2017.

Das Kreuz mit den Streifen

 

Immer mehr Menschen in der Schweiz zählen sich zur eingeschworenen Gemeinschaft der „Chemtrail-Truther“. Sie glauben, am Schweizer Himmel braue sich etwas Grausames zusammen, das uns alle töten könnte.

Serge nimmt eine letzte Gabel Gnocchi, dann kann er nicht mehr. Die Portionen im «Löwen» sind so üppig, dass er sie nicht mal nach acht Stunden Schichtarbeit runterbringt. Er lehnt sich im Stuhl zurück und schaut in den Regenhimmel über Affoltern am Albis. Dort oben, sagt er, seien die Chemtrails, die chemisch angereicherten Kondensstreifen, mit denen die Flugzeuge den Himmel wie mit einem Giftnetz überziehen. Sehen kann man sie heute nicht, wegen der Regenwolken. Über und in den Wolken aber, da werde kräftig gesprüht, sagt Serge.

Doch der Reihe nach. Serge, 40, Papiertechnologe, ruhige Stimme, weiss ja, dass das alles wie ein Hammer wirkt, wenn man es zum ersten Mal hört. Er selbst hat das Geschwätz über Chem- trails auch lange nicht geglaubt. Als dann 2008 die Finanzkrise kam, traute er der globalen Elite nicht mehr. Er hat sich in drei Wochen alles reingezogen, was er im Internet über Chemtrails und an- dere «sogenannte Verschwörungstheorien» finden konnte. Er wurde zum Gläubigen. Und heute, sagt Serge: «Heute glaube ich nicht mehr. Heute weiss ich, dass es Chemtrails gibt.»

Das Spiel mit dem Wetter

Serge ist überzeugt davon, dass über Europa seit 2001 Flieger kreisen, die Chemikalien und Metallpartikel in die Atmosphäre sprühen. Ursprünglich habe es dazu spezielle Flugzeuge gegeben. Heute seien auch normale Airliner Teil der Verschwörung. Das chemische Gemisch, sagt Serge, werde dem Kerosin beigemischt und lande in den Kondensstreifen. Dahinter stecke die Nato, oder vielleicht die USA, im Auftrag von Rüstungsfirmen und der Pharmaindustrie. Dass sie das machen, erzählt Serge, habe militärische Gründe. «Vielleicht wollen sie die Bevölkerung dezimieren, oder die Sonneneinstrahlung auf die Erde reduzieren, damit die Menschen zusätzliche Vitamin-D-Präparate schlucken müssen.»

Serge ist seit neun Jahren nicht mehr geflogen. Bei der chemischen Vergiftung der Atmosphäre will er nicht mitmachen.

Die Chemtrail-Verschwörungstheorie gibt es seit den 90er-Jahren. Damals tauchte ein Strategiepapier der USAir Force auf mit dem Titel «Das Wetter kontrollieren bis 2025». Darin äusserten sich Experten zu Mitteln, mit denen man Wetterphänomene beeinflussen könnte. Das Dokument gilt den Chemtrail-Verschwörern als Beleg dafür, dass sich der «militärisch-industrielle Komplex» aus mächtigen Armeekreisen und Industrie-Multis gegen die Menschheit verschworen hat und in die meteorologischen Geschehnisse über unseren Köpfen eingreift. Informationen über das Programm, glauben die «Chemtrail-Truther», würden absichtlich zurückgehalten.

Wissenschaftliche Beweise für diese Theorie gibt es nicht. In einer 2016 von Stanford-Professor Ken Caldeira veröffentlichten Umfrage unter 77Atmosphärenwissenschaftern und Chemikern gaben 76der Befragten an, dass es keinerlei Hinweise auf Manipulationen der Atmosphäre durch irgendwelche Chemtrails gebe. Das Bundesamt für Zivilluftfahrt bezeichnet die Theorie als «unhaltbar» und Meteo Schweiz sagt zum Vorwurf, das Chemtrail-Programm zu verschweigen: «Als Meteorologen und Klimatologen weisen wir den Vorwurf vollumfänglich zurück.» Die Swiss teilt der «Schweiz am Wochenende» mit, sie äussere sich nicht zu solchen Theorien, und die Flugüberwachungsfirma Skyguide erinnert daran, dass jedes nicht identifizierbare Flugzeug am Schweizer Himmel durch die Luftwaffe abgefangen würde.

Serge kann das alles nicht beruhigen. Er nimmt doch noch mal eine Gabel der kaltgewordenen Gnocchi und sagt: «Ich brauche keine Beweise, ich muss nur in den Himmel schauen. Dann weiss ich, was läuft.» Früher, als Kind, fand er die Streifen noch lustig. Er wollte, dass die Flugzeuge mehr davon machten. Heute aber mache es ihn nur noch traurig, wenn er am Türlersee in die Sonne liegen wolle und sehe, «wie sie über mir den Himmel zuziehen».

Doch Serge will nicht klagen, er will etwas verändern. Deshalb hat er mit einem Dutzend Gleichgesinnter 2012 die Interessengemeinschaft Blauer Himmel gegründet. Ihr Ziel: «Aufwecken. Und glaub mir, viele wachen auf.» Serge schätzt, dass es in der Schweiz etwa 100000 Chemtrail-Anhänger gebe. Und es kämen immer mehr dazu.

Eine davon ist die Baslerin Fatima Baumgartner. Sie sei ein «sonnenbedürftiger» Mensch, lacht die 22-Jährige ins Telefon. «Und da haben mich die Streifen am Himmel zusehends aufgeregt.» Deshalb hat sie sich in der Vertiefungsarbeit während ihrer Ausbildung zur Fachangestellten Gesundheit mit dem Thema Chemtrails auseinandergesetzt. Sie ging in ein Labor und liess eine Regenwasserprobe auf Aluminiumrückstände testen. «Wenn immer mehr Steuerzahler an Chemtrails glauben, dann müsste doch auch der Bund solche Messungen machen», findet sie.

Doris Leuthards Brief

Das schrieb die Baslerin der Umweltministerin Doris Leuthard. Die Bundesrätin antwortete, dass Aluminium von Natur aus in der Erdkruste vorkomme, dass es auch in industriellen Anwendungen eingesetzt werde und über das Abwasser in die Umwelt gelangen könne. «Als Umweltministerin versichere ich Ihnen, dass keine Anhaltspunkte für das systematische Versprühen gesundheitsschädigender Substanzen im Schweizer Luftraum existieren», schrieb Leuthard. Zufrieden ist Baumgartner damit nicht. Kürzlich filmte sie auf einem Flug «verdächtige» Kondensstreifen, die aus den Düsen strömten. Am liebsten möchte sie gar nicht mehr richtig hinschauen. «Irgendwann wird man sonst völlig gaga», sagt sie. «Und was nützt es denn, wenn ich gegen Goliath ‹gohne go Chörnli zämepicke›?»

Giftige Kondensstreifen, saurer Regen, verlorenes Vertrauen: Die Chemtrail-Truther glauben, irgendjemand trachte ihnen heimlich nach dem Leben.

Zurück im «Löwen» in Affoltern am Albis. Serge schüttelt den Kopf. Nein, eine überhastete Revolution gegen Goliath, das wolle auch er nicht. «Was wir aber brauchen, das ist der Kampf um die Informationen.» Wenn die Regierung nicht handle, dann müsse der «Aufweckprozess» eben über die Bevölkerung gehen. Serge redet schneller als am Anfang des Gesprächs. Die Stimme aber bleibt ruhig, die grossen Hände fuchteln nicht. Da sitzt keiner, der Verschwörungstheorien als Ventil braucht, um angestauten Frust abzulassen. Da sitzt einer, der tief betroffen ist über das Leid, das verschworene Kreise seiner Meinung nach der unwissenden Masse antun wollen. Einer, der aus Gerechtigkeitssinn gegen etwas aufstehen will, von dem rund 99Prozent der Bevölkerung überzeugt sind, dass es gar nicht existiert.

Manchmal, das gibt Serge zu, beschlichen ihn Zweifel. «Wenn die Sprüher richtig Gas geben, und ich mich damit beruhigen muss, dass das gar nicht sein kann.» Wenn er mal mit Experten hinter einem der «Chemtrail-Flieger» herfliegen und bei der Messung der Luftwerte dabei sein könnte, dann würde er seine Meinung vielleicht ändern, sagt Serge. Seit neun Jahren ist er nicht mehr geflogen. Nicht wegen der Chemtrails, sondern wegen seiner Kontrollverlustangst. Serge kann den Gedanken nicht ausstehen, dass er nicht alles im Griff hat. Da bleibt er lieber am Boden.

Erschienen in der „Schweiz am Wochenende“ am 11. März 2017.

Der Krieger

 

Manfred Küng will für die SVP in den Solothurner Regierungsrat. Er wirbt mit zweifelhaften Videos und russischem Akzent. Zu Besuch bei einem der knorrigsten Exzentriker im helvetischen Politbetrieb.

Das Haus ist umstellt. Hunderte Rebstöcke stehen stramm im Garten und recken die knorrigen Ärmchen in den Kriegstetter Himmel. «399 sind es», sagt Manfred Küng. Ab 400 gibts einen Eintrag ins Rebkataster – und das bedeutet Bürokratie. Bürokratie aber will der Kriegstetter Gemeindepräsident nicht. Er hasst sie, er bekämpft sie, auch in seinem Wahlkampfvideo, in dem er sich der Solothurner Wählerschaft derzeit als Regierungsratskandidat präsentiert.

Im Video sieht man eine digitale 3-D-Version von Küng, der sich wie in der Player-Auswahlgalerie eines Ego-Shooter-Games ruckartig um die eigene Achse dreht. Aus dem Off ist die Stimme einer Frau zu hören, die Küng mit russischem Akzent als Kämpfer gegen die Bürokratie anpreist und gegen die Beamtenschaft wettert. Links im Bild ein wachsender Stapel Papierformulare, rechts der digitale Küng, der sich unbeirrt weiterdreht.

Mit exakt demselben Video hat Küng 2015 für den Nationalrat kandidiert. Geklappt hats nicht. Damals sei er eh nur Wasserträger für seine Partei, die SVP, gewesen, sagt Küng und lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück. Unter dem orangen Odlo-Shirt lugt ein roter Gurt hervor, darauf goldene Kühe. Am Arm trägt Küng eine Smartwatch, die jedes Mal trällert, wenn er ein E-Mail oder einen Anruf erhält. Doch Küng lässt sich nicht ablenken. In anderthalb Stunden hat er den nächsten Termin. Wo, das weiss er nicht genau, er habe kein «Termin-Hirni», sagt der Anwalt, der mit seiner Kanzlei an sechs Standorten in der Schweiz präsent ist.

Verbale Schläge

Als Anwalt hat der Wasserträger kürzlich seinen Parteifreund Christoph Mörgeli verteidigt, nachdem dieser aus dem Medizinhistorischen Museum der Uni Zürich rausgeworfen wurde. Und wenn man Küng gegenübersitzt und ihm so zuhört, dann scheint es, als habe er sich bei seinem Intimus Mörgeli ein paar rhetorische Tricks abgeschaut. Das leicht verzerrte Lächeln, das kurze Abdriften in hohe Stimmlagen, wie um einer Aussage durch die tonale Verschiebung mehr Gewicht zu verleihen, der scharfe Blick, der so gar nicht zum Lächeln passt…

Politisches Vorbild aber ist Mörgeli nicht, auch nicht «Dr. Blocher», schon gar nicht Ueli Maurer. Viel eher Otto von Bismarck und Kardinal Richelieu, sagt Küng. Die hätten gekämpft gegen Trägheit, hätten sich nicht gescheut vor der Provokation. «Man muss auch mal mit dem Stock auf den Boden schlagen, damit die Schlangen die Köpfe heben», zitiert Küng den chinesischen General Sun Tsu.

Und mit verbalen Stöcken schlagen, das kann Küng. Zum Beispiel, wenn er den AZ-Verleger Peter Wanner als «Medienzar» beschimpft und ihm vorwirft, mit seinen Journalisten in habsburgischer Manier die Politik zu «manipulieren»; wenn er die «Nordwestschweiz» als «Prawda des Freisinns» abstempelt und einer Redaktorin der Solothurner Zeitung vorwirft, sie habe ihr Handwerk in den Propagandaschmieden sowjetischer Verlage erlernt; wenn er für eine Festschrift der kantonalen SVP Bilder von Profi-Fotografen klaut und sich danach standhaft weigert, die gestellte Rechnung zu bezahlen; oder wenn er die Reaktionen auf diese Provokationen als Ausdruck «überentwickelter Empfindlichkeiten» abtut und seinen Gegenübern vorwirft, sie fühlten sich doch bloss in ihrem «trägen Vor-sich-Hinplätschern» gestört.

Putin und das Bier

Der Anwalt, der die politische Elite des Landes vor Gericht verteidigt, der Parteisoldat, der aus den niederen Rängen der Politik ausbrechen und in die Kantonsregierung will, der Winzer, der seinen Wein «Regent von Kriegstetten» nennt: Er hält nichts von diplomatischen Phrasen, er schiesst schnell und scharf, ohne Vorwarnung. Und nach der Schussabgabe versucht er, mit langen juristischen Belehrungen und historischen Verklärungen den Rauch aus der Luft zu wedeln, bis die Luft wieder rein und die Angeschossenen wieder versöhnlich gestimmt sind. Das scheint bei ihm, dem «Regenten», System zu haben.27

Manchmal aber hält sich der Rauch hartnäckig in der Luft. Manchmal, da nützt alles Wedeln nichts, da kann auch Küngs nuancierte Rede nicht über seine radikalen Haltungen hinwegtäuschen. Dann zum Beispiel, wenn er anfängt, Sätze über die völkerrechtliche Legitimität der Krim-Annexion durch Russland im Jahr 2014 in die Welt hinauszuschiessen.

Auf seiner Homepage hat der Anwalt mehrere Videos aufgeschaltet, in denen er versucht, der scharfen Kritik des Westens an Russlands Invasion in das ukrainische Territorium entgegenzutreten. Es sei alles nicht so einfach, sagt Küng in den Videos, und wühlt in historischen Tiefen nach Erklärungen, die den russischen Krim-Krieg rechtfertigen könnten.

Anwalt Küng ein Pro-Putin-Polterer? Zum russischen Präsidenten wolle er sich nicht äussern, sagt Küng. «Putin hat mir noch nie ein Bier bezahlt. Wie soll ich also sagen können, was ich von ihm halte?» Stahlblauer Blick, kurzes Schweigen. Dann kommt die nuancierte Rede: Wenn vorne im «Sternen» einer Putin als Bösen beschimpfe, dann sei das Stammtischgerede, dann gehe das. «Wenn aber Funktionäre der Bundesverwaltung so etwas sagen und schwarze Listen erstellen mit russischen Vertretern drauf, die wegen der Krim-Sache nicht mehr in die Schweiz einreisen dürfen, dann ist das schon heikler.»

Liebesbrief und Nazis

Die Schweiz habe Russland nämlich viel zu verdanken. Ohne den russischen Zaren, der sich am Wiener Kongress 1815, als sich Europa nach den napoleonischen Kriegen neu zu ordnen versuchte, für die schwache Schweiz eingesetzt habe, gäbe es uns heute kaum in dieser Form. «Ohne die Russen hätte es mit der Schweiz ‹lätz› gehen können», sagt Küng – mit tonaler Verschiebung und leicht verzerrtem Lächeln.

Müssen wir den Russen wegen dieser historischen Schuld denn gleich Hand bieten? Nicht direkt, sagt Küng. Aber Putin, diese «faszinierende Figur», der «kluge Spieler», der schreibe jetzt gerade Geschichte. Und der denke in langen Zeiträumen. Und in politischen Situationen wie der jetzigen müsse man sich einfach wieder bewusst werden, dass einen die Geschichte immer wieder einholt. Sein Lehrer habe damals gesagt: «Wenn du einen Liebesbrief schreibst, bedenke, wie er sich auf dem Tisch des (Scheidungs-)Richters liest», sagt Küng.

Das gabs in der Schweiz schon einmal, dieses Denken, dass man sich in Vorbereitung auf etwaige machtpolitische Veränderungen in Europa frühzeitig in apolitischen Opportunismus verkriecht und das Land nach dem Gusto des übermächtigen Gegenübers neu polt. Im November 1940 war das. Damals war das übermächtige Gegenüber Nazi-Deutschland, dem man sich – so forderten es die konservativen Kräfte hinter der «Eingabe der Zweihundert» – rechtzeitig anpassen sollte, um bei einem Einmarsch der Nazis nicht als feindliche Nation behandelt und gewaltsam niedergeschmettert zu werden.

Heute also, so schimmert es zwischen Küngs Argumenten hindurch, wärs mal wieder Zeit für solche Vorbereitungen, für einen politischen Frühlingsputz. «Wir müssen aufpassen, was wir sagen, wie wir Stellung beziehen», sagt Küng. «Wir müssen die Sache weniger mit dem Herzen und mehr mit dem Kopf betrachten.» Die Reaktion auf die Krim-Krise, die sei nicht «z’Bode dänkt» gewesen. Deshalb sei es jetzt Zeit für «politische Massnahmen zur Korrektur. Die Funktionäre in Bern müssen aufwachen, nicht vor sich hinpennen», sagt Küng. «Alles andere kann der Schweiz schaden.» Manchmal, sagt Küng, sei es gescheiter, man sage nichts statt das Falsche. Man könnte das als Votum für politische Neutralität verstehen – oder man könnte es als gefährlichen Opportunismus benennen. Doch das wäre dann wieder nur Ausdruck einer «überentwickelten Empfindlichkeit».

Ein Foto zum Schluss, dann muss Küng zu diesem Termin, von dem er nicht genau weiss, wo er stattfindet. An der Hausfassade, vor der Küng posiert, hängt der Schädel eines Wasserbüffels. Wasserbüffel, ein Hobby von ihm. Genau wie das völkerrechtliche Debattieren. Küng will, dass Schweizer Bauern vermehrt auf Wasserbüffel setzen. Weniger Fett, mehr Protein und zarteres Fleisch als Rinder.

Und noch einen Unterschied gibt es: Wasserbüffel muhen nicht. Sie schnauben.

Erschienen in der „Aargauer Zeitung“ am 27. Februar 2017.

Von Verrätern, Putin und Glitzerzeug

56 Prozent der Russen trauern der Sowjetunion nach. Was denken Schweizer Exil-Russen darüber? Vier Ex-Sowjet-Bürger erzählen über ihr Leben im kommunistischen Riesenreich. Und dann taucht in der guten Stube plötzlich Putin auf

Am Weihnachtstag ist es 25 Jahre her, seit die rote Sowjetflagge über dem Kreml in Moskau eingeholt und die weiss-blau-rote Russland-Flagge gehisst wurde. Der symbolische Flaggentausch besiegelte das endgültige Ende der Sowjetunion. Michael Gorbatschow, der letzte sowjetische Führer, übergab das Zepter an den ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin. Im Westen wurde das Ende des kommunistischen Riesenreiches gefeiert. Und vermeintlich brach am 25. Dezember 1991 auch für viele ehemalige Sowjet-Bürger eine freiere, wirtschaftlich sicherere Ära an. Trotzdem: Noch heute trauern viele Russen den sowjetischen Zeiten nach. Laut einer Umfrage des russischen Meinungsumfragezentrums Lewada vom April bedauern 56 Prozent der Russen, dass die Sowjetunion unterging. Doch: Wie lebte es sich in der Sowjetunion? Fusst der Verlustschmerz der russischen Mehrheit in verblendeten Erinnerungen? Oder waren die Sowjetzeiten tatsächlich so goldig, wie sich das viele Russen heute erzählen? Die «Nordwestschweiz» hat vier ehemalige Sowjetbürger getroffen und sie nach ihren Erinnerungen an die Sowjetunion gefragt.

Tatjana Schmid und Andrei Karpatchev von Krivoj Rog und Alma-Ata nach Hölstein

Andrej und Tatjana trauern der Sowjetunion heute noch nach.

Über die Sowjetunion reden? Das mache er gerne, aber nicht bei einem Kaffee. Dazu brauche es mehr Zeit, ein Abendessen mindestens, sagt Andrei Karpatchev am Telefon und lädt zu sich nach Hause ins basellandschaftliche Hölstein ein. Auf dem Esstisch stehen russische Piroschki und Schwarztee. Andrei nimmt einen Schluck und sagt: «Wir wollen die Sowjetunion zurück, und zwar so, wie Stalin sie geschaffen hatte.» Neben ihm sitzt seine Freundin Tatjana Schmid und nickt. Beide, Andrei und Tatjana, sind in der Sowjetunion aufgewachsen: Er im heutigen Kasachstan, sie in der Ukraine. Beide waren mit Schweizern verheiratet. Und für beide ist der 25. Dezember, der Tag, an dem die Sowjetunion unterging, ein Trauertag.

Hinter Andrei im Bücherregal steht neben Hunderten russischen Büchern und ein paar Bierflaschen ein Foto des jungen Putin, daneben ein Buch mit dem Titel «Wieso Nationen scheitern». Wieso ist die Sowjetunion denn gescheitert, Andrei? «Wegen dem Verräter Gorbatschow», sagt Andrei. Als Gorbatschow 1986 sein Wirtschaftsprogramm Perestroika lancierte, studierte Andrei an einer der besten technischen Hochschulen der Sowjetunion in Moskau. Er interessierte sich für Verteidigungssysteme und hatte grosse Ambitionen, in der sowjetischen Industrie Karriere zu machen. «Das Land funktionierte damals hervorragend, die Industrie war absolut Hightech», sagt Andrei.

Glitzerzeug statt Marine-Kanonen

Mit seiner Amerika-freundlichen Wirtschaftspolitik habe Gorbatschow das aber alles zerstört. «Statt Marine-Kanonen produzierten plötzlich alle nur noch Zigarettenpäckchen für Philipp Morris. Statt Hightech-Geräten stellten wir nur noch glitzernden Plastikschrott her.» Gorbatschow und die Amerikaner, an die er die Sowjetunion verraten habe, hätten das Land «konsequent zerstört», sagt Andrei. Das lukrative Ölgeschäft wurde vom Staat verkauft. Von Amerika gesteuerte Marionetten hätten die Ölindustrie übernommen. «Russland wurde ausgeraubt, das Land wurde aufgegeben», sagt Andrei. Seine Miene ist ernst, der Tee in seiner Tasse wird kalt und Andrei kommt in Fahrt.

Putin in der guten Stube.

Wie war es denn, das Leben in der Sowjetunion, bevor alles bachab ging? «Auch wenn Sie das jetzt nicht glauben wollen: Die Kulturförderung, das Schulsystem und das Gesundheitssystem waren viel besser als heute in der Schweiz.» Das meine er nicht als Beleidigung. Er habe nichts gegen die Schweiz, schliesslich habe er selber drei Schweizer Kinder. «Ich habe also mehr Schweizer auf die Welt gestellt als der durchschnittliche Schweizer Familienvater», sagt Andrei. Aber zurück zur Sowjetunion. «Da gehörte die Kultur dem Volk. Wir konnten günstig ins Ballett, lasen in der Schule alle Klassiker der Weltliteratur und hatten einen Musikunterricht, der den hier in der Schweiz in den Schatten stellt.» Wenn er in der Schweiz mit seinen Kindern mal ins Theater wollte, dann habe das jeweils ein Vermögen gekostet. «Das darf nicht sein, das hat man in der Sowjetunion verstanden.»

Statt ein Auto nur ein Kilo Zucker

Verstanden hat man auch, wie man die Kinder zum Lernen animiert. «Es gab Clubs für Nachwuchsradiotechniker, für Programmierer, es gab Wettbewerbe und die Möglichkeit, an landesweiten Physik- oder Mathematikolympiaden teilzunehmen.» Schon in der 10. Klasse hätten sie Integralrechnungen gelöst und Schwimmen habe er so gut gelernt, dass er in der Badi heute noch immer kaum überholt wird.

«Und die Ferien», wirft Tatjana ein. «Im Sommer durften wir in die Pionierlager, konnten uns am Meer verlieben und am Abend in den Lagerdiscos tanzen.» Und die Buben durften in militärischen Sommercamps mit Kleinkaliberwaffen schiessen und ein bisschen Krieg spielen. «Die Kinder waren versorgt. In der Schweiz hingegen, da haben die Eltern fünf Wochen frei und die Kinder 13 Wochen Ferien. Wie soll das funktionieren?», fragt sich Tatjana. Als Krankenschwester trauert sie nicht nur dem Schulsystem, sondern auch der sowjetischen Gesundheitsversorgung nach. «Klar, die Geräte in den Spitälern waren alt. Aber die Ärzte waren top, die Abläufe effizient. Es ging vorwärts, weil man verhindern wollte, dass sich die Leute in den Spitalgängen zu lange stauten.»

Väterchen Staat sorgte sich um die sowjetischen Söhne und Töchter, keine Frage. Die fleissigen hatten gesicherte Karrieren vor sich. Wer das System respektierte, wurde vom System belohnt. Doch was ist mit all den Schreckensmärchen von überwachten Bürgern, langen Warteschlangen und kargen Wohnungen? «Stimmt schon, der Wohnraum war mit neun Quadratmetern pro Person knapp bemessen», sagt Andrei. Sein älterer Bruder habe extra früh ein Kind gezeugt, damit er eine grössere Wohnung erhielt. Und ja, Warteschlangen habe es gegen Ende der Sowjetunion gegeben. Propaganda aber: Sehr rar. «Die Medien waren staatlich kontrolliert und neutral. Klar musste man in den Prüfungen an den Schulen mal ein Lenin-Zitat einwerfen, um gut dazustehen. Aber was ist das schon?», sagt Andrei.

An den 25. Dezember 1991, den Tag, an dem die Sowjetunion ihren roten Geist endgültig aushauchte, hat er schreckliche Erinnerungen. «Ich bin aufgewacht als Ausländer in meinem eigenen Land. Am Abend vorher war ich noch sowjetischer Bürger in der Sowjetunion. Plötzlich war ich Kasache in Russland, unerwünscht, ohne Perspektive.» Er hatte kaum Geld und hungerte sich Anfang der 90er durch die Studienjahre. Die Inflation raubte seiner Mutter die Ersparnisse. «Sie hatte 15000 Rubel gespart, um mir ein Wolga-Auto kaufen zu können. Als wir das Geld bei der Bank abholten, konnten wir damit gerade noch ein Kilo Zucker kaufen.»

Putin könnte es richten

Nach seinem Studienabschluss liess Andrei alles liegen und kam in die Schweiz: wegen der wirtschaftlichen Perspektiven und des kaputten Hüftgelenks. Das Edelweiss auf seinem Hemd, ist das ein Symbol dafür, dass er hier Wurzeln geschlagen hat? «Nein, absolut nicht. Das Edelweiss erinnert mich an die Berge in Kasachstan», sagt Andrei und stimmt ein russisches Lied an. Wer Edelweisse finden wolle, der müsse weit marschieren, heisst es darin. Und jetzt? Kasachstan ist Kasachstan, die Sowjetunion ist nimmermehr. Was tun? «Ich wünsche mir, dass die ehemaligen Sowjetstaaten darüber abstimmen können, ob sie sich einem neuen Grossrussland anschliessen wollen», sagt Andrei und hört auf zu singen. Wenn Kasachstan diesen Schritt machte, dann ginge er sofort zurück. Tatjana nickt. Auch sie ginge, wenn Russland sich einst zurückholt, was ihm gehört. Der kräftige junge Mann, der auf dem Foto im Bücherregal mit stahlblauem Blick eine Vase töpfert, arbeitet daran.

Julia Strochkova 38, von Moskau nach Gränichen

Julia Strochkova hat sich einen sowjetischen Trick bewahrt: gleichzeitig in mehreren Schlangen anstehen zu können.

Julia Strochkova muss nicht lange überlegen, wenn man sie nach ihren Erinnerungen an die Sowjetunion fragt. «Schlange stehen, für die einfachsten Sachen kämpfen müssen. Es war eine Zeit des totalen Defizits», sagt die Russin und rückt sich den Schal zurecht. Irgendwoher zieht es. Dabei ist sie doch 2012 als «klimatischer Flüchtling», wie sie das nennt, in die Schweiz gekommen, wos nicht so verdammt kalt ist im Winter wie in Moskau. Nur wegen des Klimas? «Und wegen meines Mannes, aber nicht wegen der Zustände in Russland.»

Die 38-jährige Linguistin lebte in Russland zuletzt ein gutes Leben, hatte einen gut bezahlten Job, mochte Moskau. Die Stadt hat sich extrem verändert seit ihren Teenagerjahren, als sie am Morgen vor der Schule jeweils ihre Mutter in der Schlange vor dem Milchladen ablösen musste, bevor ihre Grossmutter später den Posten übernahm. «Für grössere Sachen wie Möbel mussten wir teilweise mehrere Tage lang anstehen.» Sogar in der Hauptstadt der Sowjetunion, in der Vorzeigemetropole Moskau, wo es den Menschen besser ging als in den Vororten. «Es gab damals den Begriff Wurstzug, auf Russisch ‹kolbasnaya elektrichka›. So hiessen die Züge, die die Vorortbewohner jeweils nahmen, um mit ihren Lebensmittelmarken nach Moskau zu fahren und sich in die Warteschlangen vor den Wurst-Läden einzureihen.»

Und noch ein zweiter Begriff ist ihr geblieben: «vybrosit». «Eigentlich heisst das ‹etwas rauswerfen›. Der Begriff erhielt in der Sowjetunion aber eine neue Bedeutung. Wir verwendeten ihn, wenn ein Shop eine Ladung Schuhe oder Kleider erhielt, wenn also irgendwo Ware ‹abgeworfen› wurde. Dann sind wir jeweils sofort dahingestürmt.»

Das sowjetische Vakuum

Trotzdem: Hungern oder frieren musste Julia Strochkova nie. «Ich hatte eine schöne Kindheit, aber wer hat das schon nicht.» Die politischen Probleme seien für sie damals nicht ersichtlich gewesen. «Kinder wurden patriotisch erzogen, das begann schon im Kindergarten, da war ich natürlich auch dabei.» Hinterfragt habe sie das nie. Auch nicht die morgendlichen Appelle vor der Sowjet-Flagge in den Pionierlagern. «Als Kind macht man das alles mit, findet es sogar toll.»

Ins Ausland reiste sie zum ersten Mal 2001. Eine Dienstreise nach Deutschland. «Russland war noch halb sowjetisch, die Visaabklärungen mühsam. 2003 wurde mir mal die Ausreise für einen Kurztrip nach Deutschland untersagt.» Das sowjetische Vakuum habe lange nachgewirkt.

Dass es heute noch Leute gibt, die der Sowjetunion nachtrauern, kann Julia Strochkova nicht verstehen. «Das Einzige, das wirklich toll funktionierte, war die Kinderbetreuung. Weil die Marktwirtschaft auch die Mütter als Arbeiterinnen brauchte, hat man schon früh ein durchdachtes Betreuungssystem eingeführt, das bis heute in Russland sehr gut funktioniert.» Davon, findet Strochkova, könnte sich die Schweiz einiges abschauen. Aber abgesehen von der Kinderbetreuung? Nein, da gäbe es nicht viel, das man vermissen könnte.

Warten auf Russisch

Dass trotzdem so viele Russen der Sowjetunion nachtrauern, erklärt sich Strochkova so: «Die Leute waren sich daran gewohnt, dass andere für sie denken. Die Fünf-Jahres-Pläne, die Marktwirtschaft, die Autorität der politischen Führer: Das war eigentlich ganz bequem. Man wusste, was man hatte, und brauchte sich um nichts zu kümmern.» Diese «sowjetische Last» liege den Menschen teils noch heute in den Köpfen. «Viele Russen brauchen noch immer einen starken Mann, dem sie folgen können und der ihnen zeigt, wos langgeht.»

Und sie selbst, trägt sie auch eine sowjetische Last mit sich herum? «Nein, aber ich habe mir einen sowjetischen Trick bewahrt», sagt Strochkova und lächelt. «Ich habe damals gelernt, in mehreren Schlangen gleichzeitig anzustehen: vor dem Wurstladen, der Bäckerei, dem Milchladen. Dazu brauchts sowjetische Psychologie. Ich kann das heute noch.» Die Schweizer hingegen, die seien gar nicht gut im Anstehen. «Alle werden immer gleich nervös, wenn sie mal eine Minute warten müssen. Ein paar Tage in der Sowjetunion täten ihnen gut. Aber das ist ja nicht mehr möglich – zum Glück.»

Alsu Etzensperger 67, von Kazan nach Endingen

Aslu Etzensperger war Lehrerin und Bauleiterin zugleich.

Alsu Etzensperger sitzt auf dem Foto vorne in der Mitte. Um sie herum stehen 40 Kinder, hinten Bäume und an den Bäumen Schilder, auf denen steht: «Leben, lernen, kämpfen, wie der grosse Lenin». Ein Pionierlager in den 70ern, ein Lager, wie es viele gab, um den Eltern eine Pause zu gönnen und dem Nachwuchs in der Natur Heldengeschichten über die kommunistischen Überväter zu erzählen.

Jetzt sitzt Alsu in einem Aarauer Café und betrachtet das Foto. «Ich habe da nie aus Überzeugung mitgemacht, sondern weil ich Geld verdienen wollte, um mir einen Wintermantel kaufen zu können.» Die sowjetischen Ideale und die Parolen sagten der Chemie-Studentin nie zu. Das Gratis-Studium, das ihr der Staat ermöglichte, war einer der wenigen Vorteile der Sowjetunion. Als sowjetische Studentin in der Stadt Kazan fühlte sie sich dann aber zu den verbotenen Schriftstellern hingezogen. «Solschenizyn, Bulgakow, Schuckschin: Die Bücher haben Mitstudenten nachts mit den Rotoprint-Druckern an der Uni gedruckt. Danach haben wir sie im Uni-Chor ausgetauscht.» Zwei bis drei Tage hatte man Zeit, dann mussten die Bücher weitergegeben werden. «Wenn uns der Geheimdienst KGB erwischt hätte, wären wir von der Uni geflogen. Aber wir Chemiker sind von Natur aus vorsichtige Leute.»

Politischer Küchenklatsch

Aslu Etzensperger als junge Lehrerin (vorne in der Mitte).

Überwacht fühlte sie sich aber nicht nur in den Hörsälen. «Egal wo man war, man wusste nie, ob man frei sprechen konnte. Das System hatte überall Augen und Ohren.» Ausser zuhause in der Küche. «Die sowjetische Küche, das war eine Insel der Freiheit.» In den Dämpfen und im Lärm, da fühlte man sich sicher vor den Lauschern. Damit in der Küche aber nicht nur geschwatzt, sondern auch gegessen werden konnte, musste man vor den Verkaufsläden oft stundenlang Schlange stehen. «Unter Chruschtschow in den 60ern wars am schlimmsten. Da gingen die Läden um 8 auf und wir standen schon um 5 Uhr in der Schlange, um am Morgen ein Brot zu ergattern.» Vieles war rationiert, selbst der Wodka. «Den brauchten wir vor allem, um die Handwerker zu entlohnen. Er war als Zahlungsmittel genauso akzeptiert wie der Rubel.»

Nach der Uni fand Alsu eine Stelle als Lehrerin. Acht Stunden am Tag, 42 Kinder in der Klasse, dazu fünf Stunden Privatunterricht, 150 Dollar Lohn pro Monat. «Ich hasste es, den Kindern jeden Tag Lügen über die Politik und über Breschnew zu erzählen.» Eine andere Wahl hatte Alsu aber nicht. Sie heiratete einen Jazz-Pianisten, wurde Mutter, lebte in einer Wohnung mit dicken Wänden und alten Wasserleitungen, die sie im Winter manchmal mit dem Bunsenbrenner enteisen musste. «Wir hatten ein gutes Leben, veranstalteten Haus-Konzerte, arbeiteten hart.» Alles limitiert, aber alles o.k.

Die Lehrerin als Bauleiterin

Und dann kam 1986 und mit ihm die Perestroika, Gorbatschows Wirtschaftsprogramm, das die Marktwirtschaft abschaffen und die Sowjetunion gegenüber dem Westen öffnen sollte. «Plötzlich waren alle verbotenen Bücher erlaubt», sagt Alsu. Bücher waren ihre Welt, reisen konnte sie nicht, lesen war Luxus. Vorerst alles wunderbar. Nach Gorbatschow aber trat Jelzin auf die Bühne. Monatelang erhielt Alsu keinen Lohn, musste bei ihrer Mutter um Geld und Buchweizen anfragen. Die 90er-Jahre seien die schlimmsten Jahre gewesen, sagt Alsu.

Als Lehrerin erhielt sie von der George-Soros-Stiftung fünf Mal einen Preis für ihre Verdienste. Ein wichtiges Zusatzeinkommen, jeweils fast ein Jahreslohn. Doch unter Jelzin wurde das Programm nicht mehr unterstützt. In den Schulferien wurde sie zudem gezwungen, mit den Eltern ihrer Schüler das Chemie-Zimmer umzubauen. Die Modernisierung, die Jelzin wollte, bedeutete für Alsu pausenlosen Einsatz. Sie trennte sich von ihrem Mann und haderte mit dem Schicksal. «Mir war plötzlich klar: Jetzt hilft dir niemand mehr.» Sie bat ihren Sohn, ihr in der Schweiz einen Mann zu suchen. Es klappte, Alsu wanderte aus. Heute unterrichtet sie Russisch an der Migros Klubschule. Die verbotenen Bücher, die sie in den Chemievorlesungen auf ihren Schoss legte und heimlich las: Sie sind für ihren neuen Job viel wert. Und die Sowjetunion? «Die wünsche ich mir nicht zurück, nie mehr.»

Zuerst erschienen in der „Aargauer Zeitung“ am 23. Dezember 2016