Politics, Schweiz

Im Tal der Wölfe

Im Walliser Val d’Anniviers hat jemand einen Wolf gewildert. Die Suche nach dem Täter bleibt aussichtslos – trotz Kopfgeld.

David Gerke stapft durch den Schnee. Sein Border Collie Mila hüpft ihm von Fussstapfe zu Fussstapfe hinterher. Anstrengend ist das. So anstrengend, dass Mila nicht einmal die beiden Gämsen bemerkt, die steil links unten durch den Walliser Winterwald springen.

Die Anstrengung sei bitternötig, sagt Gerke, Präsident der Gruppe Wolf Schweiz. Denn hier hinten im Val d’Anniviers hat ein Wilderer vor einem Monat einen Wolf erschossen. Gerke hat 10000 Franken für Hinweise auf die Täterschaft ausgesetzt. Er will den Wilderer finden. Er will, dass es den Wallisern nicht egal ist, wenn der Wolf in ihren Tälern illegal gejagt wird. Es gebe Gerüchte, ruft Gerke über die Schulter. Der Metzger seis gewesen, habe ihm einer gesagt. Wohl nur eine Dorffehde. Gerke will sich erst einmal vor Ort umhören.

Das Wallis hat ein kompliziertes Verhältnis zum Wolf. Nachdem das Tier im 19. Jahrhundert aus dem Rhonetal verschwand, hatten die Schafhirten 100 Jahre lang Ruhe vor den grauen Jägern. In den 90ern wanderte der Wolf von Italien her wieder ein. Und seit er die ersten Schafe gerissen hat, flammt der alte Walliser Hass auf das Wildtier auf.

David Gerke: ein Üsserschwizer mit schwierigier Mission im Wallis.

Es sei ganz einfach, sagt Gerke. «Die Schäfer müssen ihre Herden besser schützen.» Dafür erhielten sie schliesslich Subventionen: für einen Herdenschutzhund jährlich 1100 Franken, pro Laufmeter Zaun 70 Rappen. Das kostet den Bund jedes Jahr 2,9Millionen Franken. Auch die Gruppe Wolf Schweiz würde Hirten unterstützen. «Sie sind aber nicht zugänglich für unseren Rat und unser Geld», sagt Gerke und hält inne. Er zeigt in den Schnee. «Dachsspuren.» Kurzer Blick ins Tal, kein Wolf weit und breit, drum vorwärts, in den Wald hinein.

Immer diese Üsserschwizer

In der Schweiz werden jedes Jahr rund 300 Schafe und Ziegen von Wölfen totgebissen, 1,5 Promille der gut 200000 Tiere, die den Sommer auf der Alp verbringen. Wenig, eigentlich. Dass Schafzüchter wütend werden, wenn der Wolf sich in ihre Herden verbeisst, das kann Wolfschützer Gerke trotzdem verstehen. Er hat auch nichts dagegen, wenn man Wölfe unter bestimmten Bedingungen abschiesst. «Aber das ewige Gerede von der nötigen Regulierung», sagt Gerke und sucht nach dem richtigen Wort. «Wenn die Wolfsgegner von Regulierung sprechen, dann meinen sie immer Ausrottung.» Das sei Wunschdenken. Der Wolf komme, ob das den Wallisern passe oder nicht. «Und wenn er kommt, dann wird er bei den Züchtern für eine Selektion sorgen: Wer sich anpasst, der überlebt. Wer stur bleibt, nicht.»

Das Echo auf solch deutliche Worte hallt von den felsigen Walliser Wänden wider. Vor allem, wenn sie von einem wie Gerke kommen, einem Solothurner. Dass ein «grüner Üsserschwiizer» wie er sich hierhin, in die himmelhoch umstellten Bergtäler, wagt und den Wallisern vorhält, was sie vom Wolf zu denken haben, das gebe ab und an Probleme. Doch ihm sei das egal, sagt Gerke. Der Wolf sei ein national geschütztes Tier. «Und das Wallis ist immer noch Teil der Schweiz.» Zudem dürften die Walliser ja auch darüber abstimmen, ob die Atomkraftwerke bei ihm zu Hause im Mittelland abgeschaltet werden sollen oder nicht.

Atomkraftwerke sind grad die geringste Sorge von Georges Schnydrig. Der Gemeindepräsident des 700-Seelen- Dorfes Lalden arbeitet zwar tagsüber für einen Energiekonzern. Sein Herz aber, das schlägt für seine 40 Schwarznasenschafe. Und es schlägt gegen den Wolf. Deshalb ist Schnydrig Präsident des Vereins «Lebensraum Wallis ohne Grossraubtiere». Und deshalb erzählt er dem Reporter gern, wie das wirklich ist mit dem Wolf und dem Wallis. Schnydrig steht in der neonerleuchteten Wärme seines Stalls, umblökt von seinen Schafen, und spricht so schnell, dass es für das ungeübte Üsserschwiizer Ohr passagenweise schwierig ist, zu folgen. «10000 Franken, das ist doch krank», ruft Schnydrig durch den Stall. Das sei ja mehr, als er bekäme, wenn er bei «Aktenzeichen XY… ungelöst» helfen würde, einen Mord aufzuklären. «Das sind Fantasten, diese Wolfsfreunde, Fantasten!»

Trotz den 10000 Franken: Schnydrig würde den Wilderer nicht verraten. Er wisse nicht, wers war, sagt Schnydrig und schiebt mit dem Fuss ein paar Heubüschel zur Seite. Er selber würde aber auch schiessen, wenn ihm eines dieser Biester vor der Nase durchschliche. «Das ist ja logisch.»

Schnydrig weiss, wie das ist, wenn einem der Wolf ein Schaf raubt. Ihm ist das vor vier Jahren selbst passiert. «Die Wölfegehören nicht ins Wallis», ruft Schnydrig. «Punkt.» Als der Wolf vor 20 Jahren plötzlich wieder im Tal aufgetaucht sei, da hätten alle gesagt: Ihr Neandertaler da im Wallis, stellt euch nicht so an, schont den Wolf!» Jetzt aber, wo sich der Wolflangsam ausbreite im Alpenraum, wo allmählich allen klar werde, wie gefährlich dieses Tier sei, jetzt ändere sich die Meinung. «Jetzt fängt das Spiel an. 2017 wird ein gutes Jahr», sagt Schnydrig siegesgewiss und krault einem seiner Schafe den Kopf. Schon in sieben Kantonen gebe es «Lebensraum»-Vereine. «Wenn wir jetzt nichts tun, dann müssen wir unsere Alpen bald wieder verbarrikadieren wie im Zweiten Weltkrieg.»

All die Vorschläge zur Verbesserung des Herdenschutzes kann Schnydrig nicht mehr hören. Alpen zusammenlegen, damit man sich einen Hirten leisten kann? Kaum möglich für die kleinstrukturierten Walliser Betriebe. Einen Hund anschaffen, nur weil man Schafe züchten will? Der Aufwand wäre riesig. Beim Nachwuchs Werbung machen, damit die Schafzüchter-Tradition überlebt? Es würde ja auch kein Junger ein Auto kaufen, wenn er wüsste, dass ein Monster das Gefährt am nächsten Tag zerfetzte. «Zom Chotze» sei das alles, findet Schnydrig. Darum gebe es nur eines: Der Wolf muss weg. «Fertig.»

Irgendwo im Val d’Anniviers lebt ein Walliser mit schlechtem Gewissen. Gerke wird ihn wohl nie finden.

Auf politischer Ebene gibt es mehrere Vorschläge, die dem Wolf das Leben schwer machen könnten. Doch Schnydrig weiss, dass der politische Weg riskant ist, weil die Stimmen all der ahnungslosen wolfsfreundlichen Städter schliesslich doch überwiegen könnten. Gegen diese Ahnungslosen, gegen die Städter, gegen sie habe er nichts, wirklich nicht, ruft Schnydrig durch den Stall. Aber die «locker-flockigen Pro-Wolf-Sprüche», die manch einer ennet der Alpen als eine Art verbalen Naturschutzakt missverstehe, die gingen ihm auf die Nerven. Die sollen halt mal hierhin kommen zu ihm in den Stall nach Lalden, das mal sehen hier. Dann würden sie realisieren, dass das «Null Komma null Logik macht», dass sich die Hunde im Mittelland nur in umzäunten Freilaufzonen austoben dürften, während der Wolf im Wallis ungehindert herumstreunen könne.

Die doppelte Strafe

Das sind die Fronten, die das Land am Rhonestrand so jäh durchzerren. Wer nach Versöhnung sucht, der findet sie im Weiler Hegdorn ob Naters. Hier, in der Stube der Familie Theler, steht der «Tisch des Konsens». Eine passende Bezeichnung, findet Christian Theler. Theler ist Förster, Hilfswildhüter, Landschaftsschützer und Ranger. Er kennt die verschiedenen Perspektiven, und er teilt sie: alle ein bisschen. Sohn Ismael ist Jäger. Sohn Elia ist Schäfer. Ehefrau Miriam ist neutral. Und er, Christian, will keinen Streit.

Also setzt man sich hin und sucht nach Wegen raus aus dem Wolfs-Patt. Ein typischer Abend am «Tisch des Konsens», nur etwas ist anders als sonst: Statt Wein gibts Tee. Schliesslich ist Fastenzeit. Und gewisse Traditionen soll man wahren. Auch die Tradition der Nebenerwerbslandwirtschaft, findet Theler. Manche Walliser Familien bewirtschaften nebenher mit Schafherden ein paar Steilhänge und beugen damit der Verwilderung der gächen Matten vor. Der Wolf aber, der könnte dieser Tradition den Garaus machen. «Er beschleunigt den Strukturwandel», sagt Theler. Die Bewirtschaftung der Steilhänge werde wegen der nötigen Herdenschutzmassnahmen immer aufwendiger. Der Trend gehe deshalb Richtung Grossbetriebe.

Als Förster aber sei er ein Wolfsfreund, sagt Theler. «Der Wolf hilft bei der Regulierung der Wildbestände und dient damit der Waldverjüngung.» Weniger Jungwild heisst weniger Schabschäden an den Jungbäumen. Und ja, sagt Theler, der Ranger: Der Wolf sei halt einfach auch ein schönes Tier. Und diese Kraft: 150 Kilo Druck pro Quadratzentimeter, wenn er zubeisst. «Beeindruckend.»

So oder so: «Ein wolffreies Wallis wird es nie mehr geben», sagt Theler, ob die Mehrheit nun für oder gegen den Wolf sei. Irgendwann werde sich das ganze Wallis rund um einen imaginären Tisch setzen und einen Konsens finden müssen, etwas anderes bleibe nicht übrig. Und die 10000 Franken? «Dramatisch viel Geld», findet Theler. Vielleicht sei das aber nötig. «Bisher wurde nämlich nicht richtig ernsthaft gefahndet.»

Einmal pro Woche stapft Gerke durch die Walliser Täler. Man kennt ihn – und die meisten meiden ihn.

Zurück im Val d’Anniviers. David Gerke steht vor jenem Waldbord, wo vor einem Monat jemand den erschossenen Wolf, ein ausgewachsenes Weibchen, hingeworfen hat. Wohl in der Absicht, dass der Kadaver gefunden werde. «Stimmungsmache», sagt Gerke und sucht im steilen Bord die Stelle, an der die tote Wölfin gelegen hatte. Die exakte Stelle findet er nicht. Dafür ein Warnschild. TOUT DEPOT DE MATERIAUX INTERDIT SOUS PEINE D’AMENDE, steht darauf. Dem Wolfstöter droht bei der Ergreifung also nicht nur eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr wegen Wilderei, sondern auch eine Ordnungsbusse der Gemeinde Anniviers – wegen unerlaubter Abfallentsorgung.

Es wäre erst das zweite Mal in der Schweizer Geschichte, dass jemand für die illegale Erschiessung eines Wolfes büssen müsste. So richtig zuversichtlich ist Gerke nicht. Alles, was er bisher in den Händen hält, sind Gerüchte. Und mit Gerüchten allein fängt man im Wallis keine Wolfstöter.

Erschienen in der „Schweiz am Wochenende“ am 18. März 2017.