Geschichte, Politics, Russland

Von Verrätern, Putin und Glitzerzeug

56 Prozent der Russen trauern der Sowjetunion nach. Was denken Schweizer Exil-Russen darüber? Vier Ex-Sowjet-Bürger erzählen über ihr Leben im kommunistischen Riesenreich. Und dann taucht in der guten Stube plötzlich Putin auf

Am Weihnachtstag ist es 25 Jahre her, seit die rote Sowjetflagge über dem Kreml in Moskau eingeholt und die weiss-blau-rote Russland-Flagge gehisst wurde. Der symbolische Flaggentausch besiegelte das endgültige Ende der Sowjetunion. Michael Gorbatschow, der letzte sowjetische Führer, übergab das Zepter an den ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin. Im Westen wurde das Ende des kommunistischen Riesenreiches gefeiert. Und vermeintlich brach am 25. Dezember 1991 auch für viele ehemalige Sowjet-Bürger eine freiere, wirtschaftlich sicherere Ära an. Trotzdem: Noch heute trauern viele Russen den sowjetischen Zeiten nach. Laut einer Umfrage des russischen Meinungsumfragezentrums Lewada vom April bedauern 56 Prozent der Russen, dass die Sowjetunion unterging. Doch: Wie lebte es sich in der Sowjetunion? Fusst der Verlustschmerz der russischen Mehrheit in verblendeten Erinnerungen? Oder waren die Sowjetzeiten tatsächlich so goldig, wie sich das viele Russen heute erzählen? Die «Nordwestschweiz» hat vier ehemalige Sowjetbürger getroffen und sie nach ihren Erinnerungen an die Sowjetunion gefragt.

Tatjana Schmid und Andrei Karpatchev von Krivoj Rog und Alma-Ata nach Hölstein

Andrej und Tatjana trauern der Sowjetunion heute noch nach.

Über die Sowjetunion reden? Das mache er gerne, aber nicht bei einem Kaffee. Dazu brauche es mehr Zeit, ein Abendessen mindestens, sagt Andrei Karpatchev am Telefon und lädt zu sich nach Hause ins basellandschaftliche Hölstein ein. Auf dem Esstisch stehen russische Piroschki und Schwarztee. Andrei nimmt einen Schluck und sagt: «Wir wollen die Sowjetunion zurück, und zwar so, wie Stalin sie geschaffen hatte.» Neben ihm sitzt seine Freundin Tatjana Schmid und nickt. Beide, Andrei und Tatjana, sind in der Sowjetunion aufgewachsen: Er im heutigen Kasachstan, sie in der Ukraine. Beide waren mit Schweizern verheiratet. Und für beide ist der 25. Dezember, der Tag, an dem die Sowjetunion unterging, ein Trauertag.

Hinter Andrei im Bücherregal steht neben Hunderten russischen Büchern und ein paar Bierflaschen ein Foto des jungen Putin, daneben ein Buch mit dem Titel «Wieso Nationen scheitern». Wieso ist die Sowjetunion denn gescheitert, Andrei? «Wegen dem Verräter Gorbatschow», sagt Andrei. Als Gorbatschow 1986 sein Wirtschaftsprogramm Perestroika lancierte, studierte Andrei an einer der besten technischen Hochschulen der Sowjetunion in Moskau. Er interessierte sich für Verteidigungssysteme und hatte grosse Ambitionen, in der sowjetischen Industrie Karriere zu machen. «Das Land funktionierte damals hervorragend, die Industrie war absolut Hightech», sagt Andrei.

Glitzerzeug statt Marine-Kanonen

Mit seiner Amerika-freundlichen Wirtschaftspolitik habe Gorbatschow das aber alles zerstört. «Statt Marine-Kanonen produzierten plötzlich alle nur noch Zigarettenpäckchen für Philipp Morris. Statt Hightech-Geräten stellten wir nur noch glitzernden Plastikschrott her.» Gorbatschow und die Amerikaner, an die er die Sowjetunion verraten habe, hätten das Land «konsequent zerstört», sagt Andrei. Das lukrative Ölgeschäft wurde vom Staat verkauft. Von Amerika gesteuerte Marionetten hätten die Ölindustrie übernommen. «Russland wurde ausgeraubt, das Land wurde aufgegeben», sagt Andrei. Seine Miene ist ernst, der Tee in seiner Tasse wird kalt und Andrei kommt in Fahrt.

Putin in der guten Stube.

Wie war es denn, das Leben in der Sowjetunion, bevor alles bachab ging? «Auch wenn Sie das jetzt nicht glauben wollen: Die Kulturförderung, das Schulsystem und das Gesundheitssystem waren viel besser als heute in der Schweiz.» Das meine er nicht als Beleidigung. Er habe nichts gegen die Schweiz, schliesslich habe er selber drei Schweizer Kinder. «Ich habe also mehr Schweizer auf die Welt gestellt als der durchschnittliche Schweizer Familienvater», sagt Andrei. Aber zurück zur Sowjetunion. «Da gehörte die Kultur dem Volk. Wir konnten günstig ins Ballett, lasen in der Schule alle Klassiker der Weltliteratur und hatten einen Musikunterricht, der den hier in der Schweiz in den Schatten stellt.» Wenn er in der Schweiz mit seinen Kindern mal ins Theater wollte, dann habe das jeweils ein Vermögen gekostet. «Das darf nicht sein, das hat man in der Sowjetunion verstanden.»

Statt ein Auto nur ein Kilo Zucker

Verstanden hat man auch, wie man die Kinder zum Lernen animiert. «Es gab Clubs für Nachwuchsradiotechniker, für Programmierer, es gab Wettbewerbe und die Möglichkeit, an landesweiten Physik- oder Mathematikolympiaden teilzunehmen.» Schon in der 10. Klasse hätten sie Integralrechnungen gelöst und Schwimmen habe er so gut gelernt, dass er in der Badi heute noch immer kaum überholt wird.

«Und die Ferien», wirft Tatjana ein. «Im Sommer durften wir in die Pionierlager, konnten uns am Meer verlieben und am Abend in den Lagerdiscos tanzen.» Und die Buben durften in militärischen Sommercamps mit Kleinkaliberwaffen schiessen und ein bisschen Krieg spielen. «Die Kinder waren versorgt. In der Schweiz hingegen, da haben die Eltern fünf Wochen frei und die Kinder 13 Wochen Ferien. Wie soll das funktionieren?», fragt sich Tatjana. Als Krankenschwester trauert sie nicht nur dem Schulsystem, sondern auch der sowjetischen Gesundheitsversorgung nach. «Klar, die Geräte in den Spitälern waren alt. Aber die Ärzte waren top, die Abläufe effizient. Es ging vorwärts, weil man verhindern wollte, dass sich die Leute in den Spitalgängen zu lange stauten.»

Väterchen Staat sorgte sich um die sowjetischen Söhne und Töchter, keine Frage. Die fleissigen hatten gesicherte Karrieren vor sich. Wer das System respektierte, wurde vom System belohnt. Doch was ist mit all den Schreckensmärchen von überwachten Bürgern, langen Warteschlangen und kargen Wohnungen? «Stimmt schon, der Wohnraum war mit neun Quadratmetern pro Person knapp bemessen», sagt Andrei. Sein älterer Bruder habe extra früh ein Kind gezeugt, damit er eine grössere Wohnung erhielt. Und ja, Warteschlangen habe es gegen Ende der Sowjetunion gegeben. Propaganda aber: Sehr rar. «Die Medien waren staatlich kontrolliert und neutral. Klar musste man in den Prüfungen an den Schulen mal ein Lenin-Zitat einwerfen, um gut dazustehen. Aber was ist das schon?», sagt Andrei.

An den 25. Dezember 1991, den Tag, an dem die Sowjetunion ihren roten Geist endgültig aushauchte, hat er schreckliche Erinnerungen. «Ich bin aufgewacht als Ausländer in meinem eigenen Land. Am Abend vorher war ich noch sowjetischer Bürger in der Sowjetunion. Plötzlich war ich Kasache in Russland, unerwünscht, ohne Perspektive.» Er hatte kaum Geld und hungerte sich Anfang der 90er durch die Studienjahre. Die Inflation raubte seiner Mutter die Ersparnisse. «Sie hatte 15000 Rubel gespart, um mir ein Wolga-Auto kaufen zu können. Als wir das Geld bei der Bank abholten, konnten wir damit gerade noch ein Kilo Zucker kaufen.»

Putin könnte es richten

Nach seinem Studienabschluss liess Andrei alles liegen und kam in die Schweiz: wegen der wirtschaftlichen Perspektiven und des kaputten Hüftgelenks. Das Edelweiss auf seinem Hemd, ist das ein Symbol dafür, dass er hier Wurzeln geschlagen hat? «Nein, absolut nicht. Das Edelweiss erinnert mich an die Berge in Kasachstan», sagt Andrei und stimmt ein russisches Lied an. Wer Edelweisse finden wolle, der müsse weit marschieren, heisst es darin. Und jetzt? Kasachstan ist Kasachstan, die Sowjetunion ist nimmermehr. Was tun? «Ich wünsche mir, dass die ehemaligen Sowjetstaaten darüber abstimmen können, ob sie sich einem neuen Grossrussland anschliessen wollen», sagt Andrei und hört auf zu singen. Wenn Kasachstan diesen Schritt machte, dann ginge er sofort zurück. Tatjana nickt. Auch sie ginge, wenn Russland sich einst zurückholt, was ihm gehört. Der kräftige junge Mann, der auf dem Foto im Bücherregal mit stahlblauem Blick eine Vase töpfert, arbeitet daran.

Julia Strochkova 38, von Moskau nach Gränichen

Julia Strochkova hat sich einen sowjetischen Trick bewahrt: gleichzeitig in mehreren Schlangen anstehen zu können.

Julia Strochkova muss nicht lange überlegen, wenn man sie nach ihren Erinnerungen an die Sowjetunion fragt. «Schlange stehen, für die einfachsten Sachen kämpfen müssen. Es war eine Zeit des totalen Defizits», sagt die Russin und rückt sich den Schal zurecht. Irgendwoher zieht es. Dabei ist sie doch 2012 als «klimatischer Flüchtling», wie sie das nennt, in die Schweiz gekommen, wos nicht so verdammt kalt ist im Winter wie in Moskau. Nur wegen des Klimas? «Und wegen meines Mannes, aber nicht wegen der Zustände in Russland.»

Die 38-jährige Linguistin lebte in Russland zuletzt ein gutes Leben, hatte einen gut bezahlten Job, mochte Moskau. Die Stadt hat sich extrem verändert seit ihren Teenagerjahren, als sie am Morgen vor der Schule jeweils ihre Mutter in der Schlange vor dem Milchladen ablösen musste, bevor ihre Grossmutter später den Posten übernahm. «Für grössere Sachen wie Möbel mussten wir teilweise mehrere Tage lang anstehen.» Sogar in der Hauptstadt der Sowjetunion, in der Vorzeigemetropole Moskau, wo es den Menschen besser ging als in den Vororten. «Es gab damals den Begriff Wurstzug, auf Russisch ‹kolbasnaya elektrichka›. So hiessen die Züge, die die Vorortbewohner jeweils nahmen, um mit ihren Lebensmittelmarken nach Moskau zu fahren und sich in die Warteschlangen vor den Wurst-Läden einzureihen.»

Und noch ein zweiter Begriff ist ihr geblieben: «vybrosit». «Eigentlich heisst das ‹etwas rauswerfen›. Der Begriff erhielt in der Sowjetunion aber eine neue Bedeutung. Wir verwendeten ihn, wenn ein Shop eine Ladung Schuhe oder Kleider erhielt, wenn also irgendwo Ware ‹abgeworfen› wurde. Dann sind wir jeweils sofort dahingestürmt.»

Das sowjetische Vakuum

Trotzdem: Hungern oder frieren musste Julia Strochkova nie. «Ich hatte eine schöne Kindheit, aber wer hat das schon nicht.» Die politischen Probleme seien für sie damals nicht ersichtlich gewesen. «Kinder wurden patriotisch erzogen, das begann schon im Kindergarten, da war ich natürlich auch dabei.» Hinterfragt habe sie das nie. Auch nicht die morgendlichen Appelle vor der Sowjet-Flagge in den Pionierlagern. «Als Kind macht man das alles mit, findet es sogar toll.»

Ins Ausland reiste sie zum ersten Mal 2001. Eine Dienstreise nach Deutschland. «Russland war noch halb sowjetisch, die Visaabklärungen mühsam. 2003 wurde mir mal die Ausreise für einen Kurztrip nach Deutschland untersagt.» Das sowjetische Vakuum habe lange nachgewirkt.

Dass es heute noch Leute gibt, die der Sowjetunion nachtrauern, kann Julia Strochkova nicht verstehen. «Das Einzige, das wirklich toll funktionierte, war die Kinderbetreuung. Weil die Marktwirtschaft auch die Mütter als Arbeiterinnen brauchte, hat man schon früh ein durchdachtes Betreuungssystem eingeführt, das bis heute in Russland sehr gut funktioniert.» Davon, findet Strochkova, könnte sich die Schweiz einiges abschauen. Aber abgesehen von der Kinderbetreuung? Nein, da gäbe es nicht viel, das man vermissen könnte.

Warten auf Russisch

Dass trotzdem so viele Russen der Sowjetunion nachtrauern, erklärt sich Strochkova so: «Die Leute waren sich daran gewohnt, dass andere für sie denken. Die Fünf-Jahres-Pläne, die Marktwirtschaft, die Autorität der politischen Führer: Das war eigentlich ganz bequem. Man wusste, was man hatte, und brauchte sich um nichts zu kümmern.» Diese «sowjetische Last» liege den Menschen teils noch heute in den Köpfen. «Viele Russen brauchen noch immer einen starken Mann, dem sie folgen können und der ihnen zeigt, wos langgeht.»

Und sie selbst, trägt sie auch eine sowjetische Last mit sich herum? «Nein, aber ich habe mir einen sowjetischen Trick bewahrt», sagt Strochkova und lächelt. «Ich habe damals gelernt, in mehreren Schlangen gleichzeitig anzustehen: vor dem Wurstladen, der Bäckerei, dem Milchladen. Dazu brauchts sowjetische Psychologie. Ich kann das heute noch.» Die Schweizer hingegen, die seien gar nicht gut im Anstehen. «Alle werden immer gleich nervös, wenn sie mal eine Minute warten müssen. Ein paar Tage in der Sowjetunion täten ihnen gut. Aber das ist ja nicht mehr möglich – zum Glück.»

Alsu Etzensperger 67, von Kazan nach Endingen

Aslu Etzensperger war Lehrerin und Bauleiterin zugleich.

Alsu Etzensperger sitzt auf dem Foto vorne in der Mitte. Um sie herum stehen 40 Kinder, hinten Bäume und an den Bäumen Schilder, auf denen steht: «Leben, lernen, kämpfen, wie der grosse Lenin». Ein Pionierlager in den 70ern, ein Lager, wie es viele gab, um den Eltern eine Pause zu gönnen und dem Nachwuchs in der Natur Heldengeschichten über die kommunistischen Überväter zu erzählen.

Jetzt sitzt Alsu in einem Aarauer Café und betrachtet das Foto. «Ich habe da nie aus Überzeugung mitgemacht, sondern weil ich Geld verdienen wollte, um mir einen Wintermantel kaufen zu können.» Die sowjetischen Ideale und die Parolen sagten der Chemie-Studentin nie zu. Das Gratis-Studium, das ihr der Staat ermöglichte, war einer der wenigen Vorteile der Sowjetunion. Als sowjetische Studentin in der Stadt Kazan fühlte sie sich dann aber zu den verbotenen Schriftstellern hingezogen. «Solschenizyn, Bulgakow, Schuckschin: Die Bücher haben Mitstudenten nachts mit den Rotoprint-Druckern an der Uni gedruckt. Danach haben wir sie im Uni-Chor ausgetauscht.» Zwei bis drei Tage hatte man Zeit, dann mussten die Bücher weitergegeben werden. «Wenn uns der Geheimdienst KGB erwischt hätte, wären wir von der Uni geflogen. Aber wir Chemiker sind von Natur aus vorsichtige Leute.»

Politischer Küchenklatsch

Aslu Etzensperger als junge Lehrerin (vorne in der Mitte).

Überwacht fühlte sie sich aber nicht nur in den Hörsälen. «Egal wo man war, man wusste nie, ob man frei sprechen konnte. Das System hatte überall Augen und Ohren.» Ausser zuhause in der Küche. «Die sowjetische Küche, das war eine Insel der Freiheit.» In den Dämpfen und im Lärm, da fühlte man sich sicher vor den Lauschern. Damit in der Küche aber nicht nur geschwatzt, sondern auch gegessen werden konnte, musste man vor den Verkaufsläden oft stundenlang Schlange stehen. «Unter Chruschtschow in den 60ern wars am schlimmsten. Da gingen die Läden um 8 auf und wir standen schon um 5 Uhr in der Schlange, um am Morgen ein Brot zu ergattern.» Vieles war rationiert, selbst der Wodka. «Den brauchten wir vor allem, um die Handwerker zu entlohnen. Er war als Zahlungsmittel genauso akzeptiert wie der Rubel.»

Nach der Uni fand Alsu eine Stelle als Lehrerin. Acht Stunden am Tag, 42 Kinder in der Klasse, dazu fünf Stunden Privatunterricht, 150 Dollar Lohn pro Monat. «Ich hasste es, den Kindern jeden Tag Lügen über die Politik und über Breschnew zu erzählen.» Eine andere Wahl hatte Alsu aber nicht. Sie heiratete einen Jazz-Pianisten, wurde Mutter, lebte in einer Wohnung mit dicken Wänden und alten Wasserleitungen, die sie im Winter manchmal mit dem Bunsenbrenner enteisen musste. «Wir hatten ein gutes Leben, veranstalteten Haus-Konzerte, arbeiteten hart.» Alles limitiert, aber alles o.k.

Die Lehrerin als Bauleiterin

Und dann kam 1986 und mit ihm die Perestroika, Gorbatschows Wirtschaftsprogramm, das die Marktwirtschaft abschaffen und die Sowjetunion gegenüber dem Westen öffnen sollte. «Plötzlich waren alle verbotenen Bücher erlaubt», sagt Alsu. Bücher waren ihre Welt, reisen konnte sie nicht, lesen war Luxus. Vorerst alles wunderbar. Nach Gorbatschow aber trat Jelzin auf die Bühne. Monatelang erhielt Alsu keinen Lohn, musste bei ihrer Mutter um Geld und Buchweizen anfragen. Die 90er-Jahre seien die schlimmsten Jahre gewesen, sagt Alsu.

Als Lehrerin erhielt sie von der George-Soros-Stiftung fünf Mal einen Preis für ihre Verdienste. Ein wichtiges Zusatzeinkommen, jeweils fast ein Jahreslohn. Doch unter Jelzin wurde das Programm nicht mehr unterstützt. In den Schulferien wurde sie zudem gezwungen, mit den Eltern ihrer Schüler das Chemie-Zimmer umzubauen. Die Modernisierung, die Jelzin wollte, bedeutete für Alsu pausenlosen Einsatz. Sie trennte sich von ihrem Mann und haderte mit dem Schicksal. «Mir war plötzlich klar: Jetzt hilft dir niemand mehr.» Sie bat ihren Sohn, ihr in der Schweiz einen Mann zu suchen. Es klappte, Alsu wanderte aus. Heute unterrichtet sie Russisch an der Migros Klubschule. Die verbotenen Bücher, die sie in den Chemievorlesungen auf ihren Schoss legte und heimlich las: Sie sind für ihren neuen Job viel wert. Und die Sowjetunion? «Die wünsche ich mir nicht zurück, nie mehr.»

Zuerst erschienen in der „Aargauer Zeitung“ am 23. Dezember 2016